Montag, 18. März 2019

10. Willkommen im Dschungel

Ich sitze spätnachts am winzig kleinen Provinzflughafen von Leticia. Ich hatte das Reisebüro gebeten, mir einen Flug für Sonntag nach Bogota zu reservieren, dass der Flieger aber um drei Uhr nachts abhebt war nicht vorher abzusehen. Der gesamte Flughafen sieht aus wie aus einem anderen Jahrtausend. Die einzige Verbindung, die hier angeboten wird ist der ca. 2-stündige Flug in die kolumbianische Hauptstadt und neben dem Schiffverkehr über den mächtigen Amazonas ist es die einzige Anbindung an den Rest der Welt, den diese Stadt hat. Nach meinen langen Wochen in den hohen Andenregionen Perus ist das Amazonasgebiet der direkte Kontrast. Anstatt mehreren tausend Höhenmetern sind es nun ziemlich genau null, anstatt nachts zu frösteln bleibt es die ganze Zeit schwül warm und auch die Mentalität hat sich schlagartig geändert, als ich in Iquitos, dem peruniaschen Pendant zu Leticia aus dem Flieger geklettert bin. Hatten die südperuanischen Taxifahrer mein Schweigen ebenfalls wortlos aktzeptiert, werde ich von meinem Tuktuk-Fahrer zugetextet und überschwänglich für mein Spanisch gelobt. Nach mehreren Wochen  mit spanischer Dauerbeschallung tritt auch bei mir der wunderbare Effekt ein, aus dem vorher noch unverständlichen Geschnatter mehr und mehr zu verstehen und meine Antworten werden allmählich ausgefeilter und raffinierter. 
Iquitos ist eine Stadt, die eigentlich nicht existieren dürfte. Sie liegt, für den Rest der Welt unerreichbar mitten im peruanischen Dschungel, eine Direktanbindung ans Straßennetz existiert nicht. Man könnte annehmen, dass eine so abgeschiedene Stadt nicht sonderlich bedeutend sein kann, allerdings ist sie mit 400.000 Einwohnern eine der Größten des Landes. Zusammen mit meiner lieben Freundin, die in der Zwischenzeit zu mir gestoßen ist, erkunde ich diese lärmige und schmutzige Metropole. Gemeinsam besteigen wir eines der berüchtigten „barco lentos“, alte Transportpötte, die zwei Decks für mitfahrende Passagiere bereithalten, um sie durch den Amazonas zu tuckern. Die Ausstattung ist sehr schlicht. Man hängt einfach seine Hängematte in den dafür vorgesehenen Vorrichtungen auf und hofft, dass einem die anderen Peruaner nicht zu nah auf die Pelle rücken. Man reist hier gerne mit der gesamten Familie, das bedeutet, dass wir uns kurz darauf eingequetscht zwischen lauten Kindern und meckernden Omas wiederfinden, während eine Etage unter uns der gesamte Hausrat mit transportiert wird. Der Amazonas, der wasserreichste Fluss der Welt ist der Ausgangspunkt für sämtliche Zivilisation, die sich in den Dschungelregionen Perus und Kolumbiens befindet. Gefühlt in jedem noch so kleinen Fischerdorf wird kurz angehalten, um die Bevölkerung mit Cola und anderen essentiellen Lebensmitteln auszustatten. Weite Teile des Dschungels sind bis heute mehr oder weniger Niemandsland. Keiner weiß so wirklich, was sich in dem größten Teil Perus noch so alles befindet und es wird nicht ausgeschlossen, dass es immer noch Ureinwohner geben mag, die völlig ohne Kontakt zur Zivilisation leben. Irgendwie beruhigend zu wissen, dass man noch nicht alles abgeholzt hat. Weniger beruhigend ist allerdings wieder zu beobachten, wie die hier Lebenden mit dem Müll umgehen, den sie verursachen. Zweimal am Tag werden Plastikschüssel mit undefinierbarem, essbarem Schleim herumgereicht, der sogar nach etwas schmeckt, auch wenn er nicht wirklich satt macht. Unter meinen entsetzten Augen schmeißen die anderen Fahrgäste das benutzte Plastikgeschirr in den Amazonas. Ich fühle mich vorbildlich und entsorge meinen Müll, einschließlich meiner Kippen in den dafür vorgesehene Mülleimer, bis ich beobachte, wie eine der Angestellten des Schiffahrtsunternehmens den gesamten Inhalt der Mülltonne ebenfalls in den tosenden Wassermassen versenkt. Ich sammle meinen Müll anschließend für mich und entsorge ihn an unserer Endstation, wo ihm vermutlich dasselbe Schicksal widerfährt. Es ist zum Verzweifeln. Greta Thunberg würde es hier nicht gefallen.
Leticia, das kolumbianische Pendant von Iquitos bildet Kolumbiens einzigen Direktzugang zum Amazonas. Auf der Karte erkennt man gut, wie Kolumbien den kleinen Finger ausstreckt, um noch irgendwie den Amazonas zu erreichen. In den 70er Jahren marschierte die kolumbianische Armee in der Stadt ein, um die erfolgte Übernahme von kriminellen Drogenschiebern niederzuschlagen. Seitdem führt die Stadt ein ruhiges Schicksal und erfreut sich seit einigen Jahren einem immer größer werdenden Tourismus. Während Hannah bereits nach Salento weiterfliegt, buche ich eine günstige dreitägige Wildlife-Tour und werde ausgerechnet am ersten Tag krank. Der alte Schamane, der mit einigen seiner elf Kinder und ein paar Enkel inmitten im Urwald lebt, deutet meine anfänglichen leichten Kopfschmerzen richtigerweise als Anfänge eines grippalen Infekts und sein Kräutertee verhindert auch nicht, dass ich in der ersten Nacht leichtes Fieber bekomme. In ebendieser Nacht wandern wir mit seinem jüngsten Sohn tief in den Urwald hinein und seine Ankündigung, da käme jetzt erstmal mehrere hundert Kilometer lang nichts mehr, beeindruckt mich. Wir kochen uns ein einfaches Mal auf Feuerholz und er baut mir und meinem Mitreisenden eine Hängemattenvorrichtung mit Plastikplane und Moskitonetz. Leicht fieberkrank wirkt der Dschungel noch lebensfeindlicher, als er ohnehin schon ist und ich werde von den über uns herfallenden Insekten zerstochen, zerkratzt und ausgesaugt. Weite Teile des Dschungels stehen immer noch unter Wasser, während die Regenzeit langsam abklingt. Wir legen zum Glück weite Teile unseres Ausflugs mit alten Holzbooten zurück, die so undicht sind, dass man immer wieder Wasser abschöpfen muss. Das indigenen Dorfleben ist faszinierend, auch wenn die westlichen Einflüsse immens sind. Alle tragen moderne Kleidung, es gibt über einen alten Dieselgenerator tagsüber Strom, die Kinder versammeln sich vor dem einzigen Fernseher im Dorf. Der alte Schamane erzählt mir, wie er früher mit seinen Kumpels Kokain über Peru bis nach Brasilien geschmuggelt hat und einmal von der brasilianischen Grenzpolizei kontrolliert wurde. Zwei Indios wie er und sein Kumpel mussten damals wie heute häufiger damit rechnen, kontrolliert zu werden, doch hatten unverschämtes doppeltes Glück. Zuerst waren die Grenzpolizisten selber Indios und luden die beiden Fremdem spontan zum Freundschaftsbier auf die Amtstube ein. Als die beiden Polizisten später durch Zufall das Kokain finden, sind alle bereits beste Freunde und es stellt sich sogar heraus, dass die Polizei selber verkauft und ihnen schließlich die beiden Kilogramm abkaufen. Er resümiert dann abschließend, dass ihm die heutige Zeit mit den Touristen doch besser gefalle. „Sehr friedlich, keine Tote mehr.“ 

Wir machen weitere Ausflüge, sehen pinke Flussdelphine und bahnbrechende Sonnenuntergänge über dem Amazonas. Seit ich als Kind Isabell Allendes „Die Stadt der wilden Götter“ gelesen hatte, war es ein Traum, einmal hier zu sein. So beeindruckend die Natur auch ist, es ist keine Natur, in der Menschen etwas verloren haben. Das Malaria zur Hochwasserzeit, die unzähligen giftigen Tiere, die es hier gibt und auch das Klima lädt mich nicht zum Verbleiben ein. Ab jetzt geht es wieder in den Teil Kolumbiens, den ich bereits in weiten Teilen kenne, zum Orte wiederentdecken und Erinnerungen auffrischen. Der Blog wird weitergehen, aber vermutlich etwas weniger Input bekommen. Stay tuned!

Samstag, 9. März 2019

9. Lost in Quechua

Es lässt sich nicht leugnen, dass Cusco eine ganz besondere und eigene Atmosphäre ausstrahlt, wie eine Aura der Ruhe und Ausgeglichenheit, die alle in ihren sanften Schlummer hüllt und Reisende wesentlich länger verweilen lässt als sie es ursprünglich geplant hatten. Ob es die malerische Berglandschaft ist, die sich um die Stadt zieht oder die schmalen Gassen, die so eng sind, dass Mensch und Auto teilweise aberwitzige Verrunken vornehmen müssen, um nicht miteinander zu kollidieren. Oder ist es tatsächlich die alte Magie der Inka, die sich an diesem Ort festgesetzt hat? Allerdings ist innerhalb der Stadt nicht mehr viel von ihr übrig geblieben, die Existenz der ehemaligen Hochkultur wurde von den Spaniern weitestgehend ausradiert. Lediglich die Grundmauern der Inka-Paläste haben sowohl die Brandgeschosse als auch zahllose Erdbeben überstanden. Die riesigen Granitblöcke wurden solange bearbeitet, bis man sie wie ein Puzzle zusammenfügen und verkanten konnte. Das alles durch pure Muskelkraft - Flaschenzug, Rad oder weiteren Schnickschnack kannten die Inka nicht. Zur Demütigung der Vorgängerkultur bauten die Spanier ihren Plaza del Mayor mit wuchtigen Repräsentationsbauten direkt auf der Kreuzung der vier Inka-Hauptstraßen, dem „Nabel der Welt“ und die Grundmauern des zerstörten Sonnentempels dienten als Residenz für den neuen spanischen Stadtherrscher. Die brutale Niederschlagung des Volksaufstand im Jahre 1535 war das letzte große Aufbegehren der Ureinwohner. Die Geschichtswissenschaft geht davon aus, dass in den Jahren 1527 bis 1572 beinahe 90% der indigenen Bevölkerung ausgerottet wurden - 14 Millionen Tote durch Krieg, Krankheiten und Hungersnöte. Es ist einer der größten Genozide der Weltgeschichte, angerichtet von goldgierigen Eroberern, die ihren technologischen Fortschritt als rassische Überlegenheit interpretierten. Und trotzdem, die alte Kultur ist nicht tot. Quechua ist als Amtssprache anerkannt, im Land stolpert man immer wieder, teils unbeabsichtigt über alte Inkabauten und auch im Stadtbild findet man bei genauem Hinsehen immer wieder Symbole trotzigen Wiederstandes. Kirchenfresken enthalten typische Inkasymbole und Altarbilder werden mit Tieren aus der Inkawelt angereichert. In einer Kirche in Arequipa wies mich der Stadtführer auf eine wohlplatzierte Ananas im Kirchenportal hin und ein Altarbild in Cusco zeigte Jesus in der Krippe liegend, nebenan Ochs und Esel und, gut versteckt im Hintergrund zieht ein Condor seine Kreise. Es sind Relikte der späten Inka, also den schmalen 10% des früheren Hochadels, die die Katastrophenjahre überlebt und ihre Leben mit den spanischen Eroberern arrangiert hatten. Ihre Kultur und ihre Sprache leben bis heute fort. Wie ich noch erfahren sollte, ist Quechua in einigen Teilen des Landes bis heute weit verbreitet. In weiten Teilen der Bevölkerung ist aber wenig Rückbesinnung auf die Vorfahren vorhanden - sie kennen die Inka vermutlich nur noch als Namensgeber für Inca Kola, ein widerlich süßes Getränk mit Kaugummigeschmack. Das Produkt gehört - wie könnte es anders sein - der Coca Cola Company. Die letzte große Demütigung einer ehemals so stolzen Hochkultur.
Nach nun mehr einen Monat Reisen kann ich folgende Veränderungen bei mir feststellen: ich bin zum Inka- und Wandernerd mutiert. Durch das Wandern habe ich erfreulich abgenommen und ich stelle fest, dass mich Großstädte und große Menschenansammlungen, auch, wenn nicht sogar insbesondere, in Form von großen Partys in vollen und lauten Bars oder Clubs überhaupt nicht ansprechen. Ich suche mir also mit Hilfe des allmächtigen Internets Tips und Anregungen für eine kurze, aber intensive Wandererfahrung und beschließe, diese Route anleine zu meistern. Auch wenn ich die Quelle ein wenig zweifelhaft finde (das Men Journal war mir bis dahin noch nicht untergekommen) scheint die Route eigentlich ganz simpel und durchaus machbar. Über zwei Collectivos erreiche ich die Zufahrtsstraße zum kleinen Örtchen Soqma. Das zuvor noch sehr gelobte maps.me enttäuscht aber, als es den Wanderweg nur sehr unpäzise angibt und ich teilweise querfeldein durch die Gegend irre. Nach über 1 1/2 Stunden erreiche ich endlich das verschlafene Soqma, decke mich mit Wasser ein und mache mich auf zum Endpunkt meines heutigen Tages: das noch kleinere Rayon. Unterwegs komme ich an einem malerischen Wasserfall vorbei und laufe unbeabsichtigt an einem alten Inka Außenposten vorbei, der früher als Raststation für Reisende von Cusco nach Machu Picchu gedient haben soll. Ich stoße auf eine englisch sprachige Wandergruppe, die nur unweit von hier ihr Lager aufgeschlagen haben. Sie werden professionell geleitet und fragen mich, ganz im kumpelhaften Wanderertonfall, ob ich denn auch ein gutes Zelt mitgenommen habe, schließlich werden die Nächte hier sehr frisch. Ich fühle mich dumm und extrem unvorbereitet, habe ich doch weder ausreichend Proviant, geschweige denn ein Zelt dabei - ich war davon ausgegangen, dass die Wanderroute touristisch erschlossen sei, so wie bis jetzt alle meine Wanderrouten. Bei Salkantay hatte ich mich noch geärgert, die Wanderung nicht ohne Tour gemacht zu haben, schließlich  hätte man weder Essen noch Zelt dabei haben müssen. Diese Route allerdings ist so ziemlich das Gegenteil von touristisch erschlossen und das Örtchen Rayon entpuppt sich als Bauernkaff mit einem Dutzend Hütten. Eine Übernachtungsmöglichkeit gibt es hier nicht. Ich frage bei einer der Hütten nach. Mir öffnet eine alte peruanische Mutti, die mit ihren drei Kindern, drei Katze, vier Hunden, einigen Hühnern und einigen Meerschweinchen unter dem Bett in ihrer kargen Behausung lebt. Die Reaktion ist zunächst äußerst ablehnend und meine Frage, ob sie denn ein Zelt da haben wird zunächst verneint. Während ich ihre Kinder gut verstehe, verstehe ich die Mutti überhaupt nicht. Ich weiß, dass mein Spanisch nicht brillant ist, aber so schlecht ist es doch nun auch wieder nicht! Auf meine Bitte, etwas langsamer zu reden geht sie dazu über, sich direkt vor mich zu stellen und in ihrem Kauderwelsch anzubrüllen. Mein Verständigungsproblem bleibt dadurch aber weiter bestehen, bis mir die Tochter erklärt, sie hätten schon ein Zelt, doch das müsse letztendlich der Papa entscheiden, der käme allerdings erst in ein paar Stunden. Wie auf Kommando kommt nur zwei Minuten später der Papa vorbei und das Zelt wird aus dem verstaubten Schuppen gebracht. Ich baue mit dem Sohn zusammen bei allmählich einsetzendem starken Wind das Zelt auf und stoße ein Gebet zum Himmel, dass es in dieser Nacht nicht regnet. Das altersschwache Zelt sieht für solche Witterungsbedingungen nicht sonderlich gemacht aus. Auch meiner Bitte nach Essen wird nachgekommen, als ich selbstverständlich anbiete, dafür auch zu bezahlen. Um den falschen ersten Eindruck wettzumachen lässt man mich am besten Platz des Hauses speisen und die Mutti rückt missmutig das Sitzkissen direkt an der Feuerstelle zurecht. Nach wenigen Minuten stinke ich komplett nach Rauch, genauso wie die gesamte Strohhütte. Die Meerschweinchen quieken in ihrem Bett unterm Käfig, die Mutti verscheucht mit einem Stockhieb die bettelnden Hunde und labert weiterhin in ihrer eigenartigen Sprache vor sich hin. Wirklich willkommen bin ich aber immer noch nicht. Sie berechnet mir erneut Geld, als ich frage, ob ich mein Handy für eine Weile aufladen kann, denn zumindest eine Stromleitung und fließendes Wasser sind als technologische Neuerung bereits im entfernten Andengebiet angekommen. Tatsächlich verfügt sogar die Mutti über ein Smartphone und als jemand anruft sieht man deutlich die Abneigung, die sie diesen neuartigen Geräten entgegenbringt. Als ich mich erneut in die Küche setze um mir beim Schein der einzigen Glühlampe ein paar Notizen zu machen, wirft sie mich energisch hinaus und ich lege mich ins Zelt. Die Harmonie rettet dann einer der Hunde, der sich anschickt, mit mir ins Zelt hineinzuklettern und als ich ihm das verwehre, die ganze Nacht direkt neben der Zeltplane verbringt und mir zumindest ein wenig Wärme spendet. Die Nacht wird frostig kalt und mein Schlafsack erweist sich als nicht ebenbürtig. Wieviel ich letztendlich geschlafen hab weiß ich nicht, als ich gegen sieben Uhr morgens aus dem Zelt steige und der Mutti ihre geforderten dreißig Soles (ca. 8€) in die Hand drücke. Für sie vermutlich eine Monatseinnahme. 

Meine heutige Etappe führt mich nun auf stolze 5.100 Höhenmeter und ich schwöre, mich nie wieder auf fragwürdige Quellen im Internet zu verlassen. Ich treffe die Wandergruppe von gestern wieder, deren Gepäck und Verpflegung auf Maultieren durch die Gegend getragen wird. Ich schließe mich kurzerhand an und stelle erneut fest, dass man nie alleine reist, wenn man alleine reist. Der Tourguide klärt mich auch endlich über den komischen Kauderwelsch der Mutti auf. Sie hat tatsächlich Quechua gesprochen, die Kinder wiederum hatten Spanisch in der Schule gelernt. Das sprachliche Erbe der Inka lebt also in solchen kautzigen und ruppigen peruanischen Bergmuttis nach. Die Gastfreundschaft des Tourguides jedoch ist mit ihrer nicht zu vergleichen, ich werde sofort als Hilfesuchender in die Gruppe aufgenommen und mir wird großzügig etwas vom Essen abgegeben. Ohne diese Gruppe wäre ich völlig aufgeschmissen gewesen. Die Wanderung führt über malerische Bergrücken, tiefgrüne Steppen und malerische Schluchten. Auch hier sind die landschaftlichen Hinterlassenschaften praktisch überall bemerkbar. Die Berghänge bilden bis heute noch die für die Landwirtschaft der Inka typische Terassenform und der Höhepunkt der Tour bildet das auf einem Felsen gebaute alte Sonnentor. Der Tourguide weist mir den Weg hinunter ins Tal. Über sehr alte Trampelpfade gelange ich hinunter, zurück in die Zivilisation. Das eigentlich Ziel meines Ausflugs waren die alten Stadtanlagen von Cachicata, doch diese sind nicht alt und verlassen, sondern wurden von den jetzigen Bewohnern mit Leben gefüllt. In die alten Grundmauern hat man neue Häuser in der landestypischen Bauweise errichtet: ein- bis zweigeschössige Bauten aus Ziegelsteinen, die man vermutlich aus Geldmangel nicht weiter verputzt, sondern sie in ihrem ursprünglichen Aussehen belässt. Ich gerate zufällig in ein familieninternes Karnevalsfest. Die ganze Mannschaft, inklusive Oma und kleinen Kindern tanzen um einen mit neuem Kochgeschirr geschmückten Baum und jeder darf dreimal mit einer großen Axt auf den reichlich lädierten Stamm einkloppen. Auch mir wird diese Ehre zuteil, genauso wie mehrere Flaschen Bier, dir mir in kurzer Zeit angeboten werden. Die peruanische Gastfreundschaft wird um ein letztes Mal tapfer verteidigt.  

Freitag, 1. März 2019

8. Salkantay

Wir schreiben das Jahr 1450, als Pachacútec Yupanqui, der 9. Herrscher des Inkareiches den Befehl gibt, auf dem Bergrücken das Machu Picchu eine Residenzstadt zu errichten. Sie soll ihm als Refugium für seine Aufenthalte in der Hauptstadt Cusco dienen, die etwa 75 Kilometer  weit entfernt liegt. Dem Weltbild der Inka nach hatte Pachamama, die Götting der Schöpfung und Vollkommenheit, sich über die Mamaqucha, der Göttin des Meeres und des Wasser gelegt. Die Berge galten somit als Bindeglied zwischen Ober- und Unterwelt und wurden auch als die Brüste der Pachamama bezeichnet (noch verwirrender: ohne das nur ganz leicht ausgesprochene „k“ in Picchu wird es leicht obszön - Pichu heißt nämlich „Penis“ auf Quechua). Die Stadt, malerisch gelegen zwischen den beiden Berggipfeln Machu Picchu (alter Berg) und Huayna Picchu (junger Berg) konnte bis zu 1000 Leuten beherbergen und mit Nahrungsmitteln versorgen. Die Terassenbauten um die Stadt herum wurden mit Mais, Maniok und Quinoa bepflanzt. Die Kanalsysteme zur Bewässerung der Pflanzen und zum Ablassen der heftigen Regenfälle im Stadtbereich waren beachtlich und bereits die Vorgängerkulturen, die sich die Inka einverleibt hatten, nutzen diese Technik. Die Inka kannten weder das Rad, noch die Mathematik, lediglich ihre minutiöse Kalkulation sämtlicher Vorkomnisse - von der exakten Anzahl des eingefahrenen Getreides bis zur genauen Vorhersage für Wetterumbrüche machten sie zur einflussreichsten Hochkultur Südamerikas. Ihre bürokratische Arbeit ist heute leider nur noch in Teilen nachzuvollziehen, zumal ihre Schrift bis heute nicht einwandfrei entschlüsselt werden konnte. Bei der vollständigen Zerstörung des antiken Cuscos gerieten die meisten Aufzeichnungen in Brand und wurden vernichtet. Die wenigen Überbleibsel der Inka in dieser früheren Weltstadt beschränken sich auf die Grundmauern der früheren Paläste und Tempel, die aus ineinander verkeilten schweren Granitsteinen bestanden. Diese überlebten sowohl einige heftige Erdbeben als auch die Brandgeschosse der Spanier. Ansonsten schwankt der Kult um die Inka irgendwo zwischen Touristenbespaßung und Tradition, die aber soweit zurückliegt, dass nur die allerwenigsten sich tatsächlich der Vorgänger zugehörig fühlen.
Es wundert einen nicht, dass die Spanier Machu Picchu niemals gefunden haben, denn sie liegt geographisch so ungünstig, dass sich vermutlich bis heute gewiefte Tourismusunternehmer gewaltig ärgern, diesen Flecken Erde nicht noch weiter kommerziell ausschlachten zu können. Als Entdecker gilt zwar gemeinhin der Amerikaner Hiram Bingham, der im Jahre 1911, begleitet von einem peruanischen Bergbauern und dessen Sohn die überwucherte Ruinenstadt international bekannt machte, doch gibt es deutliche Hinweise darauf, dass über die Jahrhunderte viele Menschen über die Existenz dieser Festung Bescheid wussten und diese entweder kartographisch skizzierten oder in weiteren offiziellen Stellen Angaben zur Existenz einer unbekannten Ruinenstadt machten. Wenige Wochen vor Binghams Expedition scheiterte bereits ein Forscher der Yale-Universität mit seinem Gefolge am schlechten Wetter, seine Erfahrungen machte sich Bingham zu nutzen. Bis heute tobt ein erbitterter Streit zwischen peruanischer Regierung und Yale University, die sich weigert, einige der Orginalexponate zurück nach Peru zu entsenden - Bingham hatte die Entdeckung der Stadt fast zwei Jahre geheim gehalten, um einige Ausstellungsstücke ungestört in die USA transportieren zu können. Nichtsdestotrotz ist Machu Picchu zu den neuen sieben Weltwundern erklärt worden. Es ist das Wahrzeichen Perus, das fast jeder Mensch auf der Welt kennt und für einen Peruaner gibt es vermutlich nichts erfüllenderes, als einmal ein Selfie mit Sich und der Ruinenstadt im Hintergrund zu knipsen. 
Über hundert Jahre nach der Entdeckung würde ein Hiram Bingham sein Machu Picchu wohl nicht mehr wieder erkennen. Der Bau der nach ihm benannten Eisenbahnstrecke von Cusco in das neu gegründete Touristen-Dorf Aguas Calientes dauerte ganze 15 Jahre und legte den Grundstein für den inzwischen kaum einzudämmenden Massentourismus. Jahr für Jahr nehmen die Ströme zu, in der Hochsaison machen sich täglich bis zu 6000 Menschen auf den Weg, um die Ruinenstadt zu begutachten. Die UNESCO forderte jahrelang vergeblich, die Touristenzahl auf maximal 850 pro Tag zu begrenzen. Erst einige Erdrutsche, die sowohl Tote forderten als auch die Bahnstrecke unpassierbar machten, lösten ein Umdenken der Tourismusbetreiber aus. Inzwischen sind die Besucherkapazitäten begrenzt und der geplante Bau einer Seilbahn, der sowohl den Touristenstrom vergrößern als auch die Landschaft verschandelt hätte, ist zunächst auf Eis gelegt. 
Nun gibt es viele Möglichkeiten, sich Machu Picchu anzunähern. Auch wenn die Stadt nur 75 Kilometer von Cusco entfernt liegt, ist der Weg dorthin nicht ganz einfach. Man kann sich natürlich langweilig und kostspielig in die bereits erwähnte Schmalspurbahn setzen und von Cusco aus direkt nach Aguas Calientes fahren. Alternativ kann man sich auch mit Sprintern in das nah gelegene Hidroelectrica kutschieren lassen, wird dabei aber sehr überrascht sein, wie lange man fahren kann, um gerade mal 75 Kilometer Luftlinie zu überwinden. Oder aber man macht es wie ein echter Inka und nimmt einen der vielen alten Inka-Pfade, die sich kreuz und quer durch den gesamten Kontinent ziehen (wie bereits erwähnt - das Straßennetz der Römer war kleiner). Der klassische Inkapfad von Cusco nach Machu Picchu ist zurzeit wegen der Regenzeit gesperrt, doch der Salkantay Trek, der direkt am 6264 Meter hohen Salkantay vorbeiführt und ein abwechslungsreiches Naturerlebnis bietet, wurde mir schon mehrmals wärmstens empfohlen. 
Um 5 Uhr in der früh fahren wir los, meine Gruppe besteht aus drei weiteren Deutschen, einer chilenischen Familie sowie unserem Tourguide mit seinem Gefolge. Ohne dass wir großartig etwas davon mitbekommen, wird für unser leibliches Wohl gesorgt. Während wir uns die nächsten fünf Tage auf teilweise 5000 Höhenmeter durch die Gegend schleppen, ziehen immer wieder Maultierkarawanen mit unserem Gepäck und unserem späteren Abendessen ans uns vorbei. Unsere Wandergruppen wird feierlich auf den Namen „Sexy Lamas“ getauft und kurz darauf ziehen die erotischen Nutztiere auf und davon. Unser Tourguide hat sich leider eine schwierige Gruppe ausgesucht, denn wie es unsere deutsche Art ist, ziehen wir vier schnell davon, während die chilenische Familie den Trail gewaltig unterschätzt hat. Schon am ersten Tag gibt die Mutti nach der Hälfte der Strecke auf und muss den zweiten Tag, den in der Tat gewaltigen Aufstieg zum Salkantay-Pass auf einem Pferd hinter sich bringen. Sowohl Sohn als auch Papa sind davon sichtlich genervt, hatten sie sich doch auf einen fröhlichen Wanderurlaub eingestellt, für den sie im Übrigen sehr viel Geld gezahlt haben - und ironischerweise deutlich mehr als wir. War ich in Cusco von Tourismusbüro zu Tourismusbüro gezogen, um den besten Preis rauszuhandeln, hatten die Chilenen das ganze im Vorraus über TripAdvisor gebucht. Für ca. 300$ - und damit mehr als das doppelte als ich und die restlichen Reisende aus unserer Gruppe. Dabei spielt dieser Preisunterschied für unseren Tourguide, unseren Koch und seinen Assistenten, die still im Hintergrund uns eine angenehme Wanderung ermöglichen, keine Rolle. Ihr Gehalt bleibt stets gleich. Das Muster zieht sich durch den gesamten Trail, auch in Aguas Calientes hat man nicht unbedingt das Gefühl, dass das viele Geld, was in und um Machu Picchu verdient wird, bei allen Beteiligten gleichmäßig ankommt. International agierende Firmen scheinen sich nebenbei extrem viel Geld in die eigene Tasche zu stecken, Teile des Tourismus um Machu Picchu sind privatisiert. So sind beispielsweise die Nachfahren Binghams immer noch an der Zugstrecke beteiligt und verdienen mit jedem verkauften Ticket bares Geld. Von Arbeits- und Krankenversicherung für die im ökologischen Tourismus Beteiligten kann man wohl nur träumen. Unser Guide erzählte uns beim Abendessen, sollte irgendeinem seiner Wanderer etwas zustoßen - durch einen Erdrutsch, Unachtsamkeit des Wanderers oder was auch immer - gehe er erstmal ohne große Verhandlung für sechs Wochen in den Knast. Seine Liebe zu den Bergen scheint aber unerschütterlich zu sein. Als ihn seine Frau letztens vor die Wahl stellte, sich für sie oder die Berge zu entscheiden, war seine Entschluss schnell gefällt. Ein wahrlich schräger Vogel, doch was kann man von jemandem anderes erwarten, der gerne beruflich in teilweise sehr schwierigem Gelände Touristenscharen durch die Gegend führt. Die Regenzeit verwandelt die Umgebung in reißende Bäche, Wanderpfade werden durch die Wassermassen unpassierbar und das ein oder andere Mal laufen wir an gewaltigen Erdrutschen vorbei, die tatsächlich immer wieder Wanderern das Leben kosten.
Schon am Tag zwei wird einem bewusst, warum die Inka diese Gegend als von den Göttern gesegnet empfunden haben. Der Salkantay erstreck sich in einer solchen Schönheit vor uns, dass man weinen möchte. Noch nie im Leben war ich einem Gletscher derartig nah. Der Hinweis unseres Tourguides, dass der Gletscher vor fünf Jahren noch einige Meter näher war, macht mich sehr nachdenklich. Dank Trump, AfD und weiteren Vollidioten haben sich inzwischen viele mit dem Gedanken angefreundet, der Klimawandel sei vielleicht doch nicht menschengemacht und ja auch gar nicht so schlimm (meine Lieblingsaussage dazu: der Klimawandel verschiebe lediglich die fruchtbaren Böden weiter Richtung Norden). Was der Klimawandel für die hier ansässigen Einheimischen bedeutet kann man schon daran erkennen, dass der Gletscher als Trinkwasserquelle Jahr für Jahr weiter nach hinten wandert. 
Hinter dem Bergpass geht es unvermittelt steil bergab und Vegetation und Temperatur ändern sich rapide. Am Fuße des Gletschers stand ich noch dick eingepackt, mit Poncho, Schal, Mütze und Handschuhen. Nach einigen hundert Metern packe ich meine Polarausrüstung schwitzend in meinen Rucksack und lege den Rest des Weges im T-Shirt zurück. Schwülwarme Luft empfängt mich im im sogenannten Heiligen Tal, das durch heißes Vulkangestein unterhalb der Erdoberfläche auf knapp 3000m ein subtropisches Klima erzeugt. Die Inka empfanden diesen Ort als eine Verschmelzung zwischen Pachamama und Mamaqucha, also eine Verbindung zwischen Ober- und Unterwelt. Die heißen Quellen, die wir am dritten Tag aufsuchen (was nach drei Tagen wandern übrigens eine wunderbare Idee ist) waren ebenfalls den Inka bekannt und ein beliebter Ort für alle möglichen Rituale.
Die Ankunft in Aguas Calientes am Tag vier ist nicht ganz so spektakulär wie die vorigen Wanderungen, schließlich ist der Ort absolut grauenvoll und existiert nur, damit der durchschnittliche Tourist einen Platz hat, an dem er seinen breiten Arsch bequem in ein Bett transferieren kann, nachdem er ihn bereits im Zug oder Sprinter plattgesessen hat. Ich habe seit vielen Wochen mal wieder ein Zimmer für mich alleine, allerdings fensterlos und schmutzig. Um vier Uhr in der früh Wandern wir zum Machu Picchu hoch. Mit einigen weiteren Wandergruppen, mit denen ich mich in den letzten Tagen angefreundet habe, kämpfen wir uns über eine Stunde lang die 1200 Stufen zum eigentlichen Ziel unserer Reise hoch, während um uns herum die Sonne langsam aufgeht und die Landschaft in ein magisches Licht taucht. Immer wieder schieben sich kleine Wolken durch die Berge, wie als hätte jemand eine überdimensionierte Nebelmaschine angeschmissen. Genau diese Nebelmaschine hat schon einigen das Erlebnis Machu Picchu ziemlich vermiest. Ein ziemlich beliebter Witz unter Reisenden ist es, sich gegenseitig Fotos von Machu Picchu zu präsentieren und dabei nur ein Foto einer riesigen Wolke zu zeigen. Wir haben wahnsinniges Glück. Noch vor der Sonne erreichen wir die alte Ruinenstadt und ich bin unvermittelt wahnsinnig ergriffen von dieser Schönheit. Wenige Kulturen haben ihre Städte so passgenau in die vorhandene Natur gesetzt wie die Inka, Stadt und Umgebung harmonieren friedlich miteinander. Nicht ganz so friedlich sind die allmählich mehr werdenden Touristen. Nach einem kleinen Fußmarsch auf dem alten Orginal-Inkapfad gelange ich zum Sonnentor, dem eigentlich Eingang zu Machu Picchu und kann mit meinen neuen besten Wanderfreunden beobachten, wie die Traube an Menschen auf dem Aussichtsplateau immer mehr wird. Auf dem Rückweg rempelt mich von hinten eine Frau an und beschwert sich lautstark bei ihrem Mann, wie sehr es sie doch nervt, dass in diesem Land ständig jemand im Weg steht. Zu ihrem großen Pech sprechen sowohl sie als auch ich (und vermutlich auch ihr Mann) hervorragendes Deutsch und als ich mich umdrehe und erwidere, dass ich das sehr gut nachvollziehen kann, wird es ganz still um sie.  

Die Rückfahrt von Hidroelectrica erfolgt mit dem Bus und wir haben ein letztes Mal die Gelegenheit, das atemberaubende Bergpanorama zu genießen. Die eigentlich kurze Strecke dauert dann doch beeindruckende sechs Stunden und ich fühle bereits ein wenig Abschiedsschmerz. Sowohl Machu Picchu als auch der Salkantay waren mit einer der beeindruckendsten Dinge, die ich bisher in meinem Leben gesehen habe. So sehr, dass ich mich entschließe, den Salkantay für immer mit mir herumzutragen. In einer fünfstündigen und äußerst schmerzhaften Prozedur lasse ich mir den Salkanay auf den linken Oberarm brennen. Salkantay for Life.

Dienstag, 26. Februar 2019

7. The Fucking System

Cusco, das ehemalige Zentrum des Inkareiches, in der die vier Hauptstraßen der Hochkultur zusammenliefen, ist inzwischen zum touristischen Zentrum Perus geworden. Von den stolzen Bauten der Inkas ist bedauerlicherweise nicht viel übrig geblieben, da die Stadt von den spanischen Eroberern dem Erdboden gleichgemacht wurde, nachdem die Ureinwohner einen gewaltigen Volksaufstand wagten. Generell sind die Geschichten der mittel- und südamerikanischen Hochkulturen relativ deprimierend, da sie alle, kurz nachdem sie mit Spaniern in Berührung kamen, innerhalb eines Jahres verschwunden waren. Das Straßennetz der Inkas war bei weitem größer als das der Römer, zusätzlich kannten sie keine Last- und Reittiere und mussten somit alle Strecken zu Fuß erledigen. Bei der Erweiterung ihres Reiches gingen die Inka nicht gerade zimperlich vor. Zwar durften die unterlegene Stämme ihre Bräuche, Rituale und auch ihre Sprache behalten, ihre Religion wurde jedoch mit heftiger Gegenpropaganda niedergemacht und die Söhne des neuen Untertanen wurde nach Cusco geschickt, um sie zu echten Inkas umzuerziehen. Technologisch waren die Inka, trotz fehlender Schrift und mathematischer Fähigkeiten überraschend hoch entwickelt. Ihre architektonischen Leistungen zeugen von ungeheurer Muskelkraft und Ausdauer, doch Eisen, Stahl, geschweige denn Schwarzpulver waren ihnen völlig unbekannt.  Umso mehr kann man sich vorstellen, was für ungleiche Kämpfe es gewesen sein müssen, als General Pizarro im Jahre 1503 mit Pferden und Schussfeuerwaffen auf die zahlenmäßig überlegenen, aber vorwiegend mit Bronze- und Kupferwaffen ausgerüsteten Inka-Krieger stieß und die Kultur beinahe vollständig vernichtete. Schon die Anwesenheit der Pferde, welche die Inka noch nie gesehen hatte, löste schiere Panik in den Reihen der Inka aus. Noch bevor sie direkt mit den Spaniern konfrontiert wurden, hatten sie bereits ihre Krankheiten ereilt und waren durch einen bereits seit Jahren andauernden Bürgerkrieg zwischen zwei rechtmäßigen Thronfolgern zusätzlich geschwächt. Die Rücksichtslosigkeit, mit der die spanischen Eroberer vorgegangen sind, ist bis heute erschütternd. Mit welcher Selbstverständlichkeit man davon ausgegangen war, dass diese neue Welt, auf die man da gerade gestoßen ist, einem gehört. Und umso erstaunlicher ist es, dass die alte Kultur sich weiterhin großer Beliebtheit erfreut, sowohl unter den Touristen, als auch in der peruanischen Bevölkerung. Generell ist man hier ein wenig spiritueller als in Deutschland, naturverbundener. Und Pizarro ist heute kein kriegerischer Eroberer mehr, sondern ein gefeierter Fußballer, auf den ich häufig angesprochen werde. 
Ein Schweizer meinte bereits in Lima zu mir, dass er sich in Cusco wie zuhause gefühlt hat, wusste er doch nie, ob er sich warm oder kalt anziehen sollte. Die Regenzeit sorgt für unvorhersehbare und sehr plötzliche Wolkenbrüche, die kurz darauf wieder von der strahlenden Sonne abgelöst werden. Auf dem Plaza del Major bieten einem wildfremde Frauen spontane Massagen an und grinsen einen dabei so keck an, dass ich mir nicht genau sicher bin, ob es sich dabei um die einzige Dienstleistung handelt. Andere drücken mir ungefragt Baby-Alpacas in die Hand um mit dir ein Foto zu machen (gegen Geld, versteht sich), Kunsthändler bieten  ihre gesammelten Werke an und wenn das nicht fruchtet, wird mir in mysteriösem Flüsterton Gras oder Kokain unter die Nase gehalten. Die Stadt ist durch und durch touristisch erschlossen und, vielleicht genau deshalb, fühle ich mich hier so wohl und gut aufgehoben. Das Hostel in dem ich wohne wurde mir bereits vorab von einer Freundin empfohlen. Es liegt auf einem Berghang, etwas außerhalb des touristischen Zentrums aber auf dem Gelände der alten Inkastadt. Es gibt einen großen Garten, drei Katzen, vier Kaninchen, zwei Hähne und ein undurchschaubares Sozialgefüge innerhalb des Hostels. Auch am Tag fünf habe ich immer noch nicht ganz durchschaut, wer von den regelmäßig ein- und ausgehenden Menschen hier nun wirklich wohnen oder einfach nur von Außerhalb gerne zum Chillen vorbeikommen. Der harte Kern des Hostels bilden eine Reihe von noch härteren Reisenden mit ungemein interessanten Biographien. Ein älterer Peruaner feierte letztens sein 20-jährigs Jubiläum, seit 1999 is er unterwegs. Arbeiten tut er als Informatiker und benötigt dafür lediglich seinen Laptop und eine einigermaßen stabile Internetverbindung. Ein älterer Amerikaner genießt nun seine Rente in Südamerika, nachdem er 40 Jahre als Elektriker in Pennsylvania gearbeitet hat. Das Leben hier liege ihm mehr, meint er, außerdem reiche seine Rente gerade mal für Essen und Trinken, würde er weiterhin in Amerika wohnen bleiben. Jetzt genießt er seinen Lebensabend mit seinen drei Katze im Hostel und bietet geführte San Pedro Trips an (der Wirkstoff ist auch als Meskalin bekannt). Insbesondere im Gespräch mit Amerikanern fällt mir ein großer Unterschied im Vergleich zu vier Jahren. Generell sind die Amerikaner, die man außerhalb Amerikas trifft politisch und geographisch sehr gebildet, anders als der allgemein Stereotyp, den man ansonsten erwartet. Waren vor vier Jahren noch viele Amerikaner einigermaßen skeptisch, was ihr Heimatland betrifft, scheint die Wahl Donald Trumps die Vaterlandsliebe vieler US-Bürger schwer erschüttert zu haben und viele sehen die Demokratie in den USA beschädigt. Häufig bekomme ich zu hören, dass viele Leute mit dem Gedanken spielen, das Land zu verlassen und nach Europa zu kommen. Eine etwas unangenehme Situation ereignet sich, als mich zwei Amerikaner in den Gassen nach einer Unterkunft fragen. Ich führe sie selbstverständlich zu meinem Hostel und freue mich schon, ein paar mehr englisch-sprechende Menschen da zu haben. Auf der Terrasse beginnt einer der Neuankömmlinge einen langen Vortrag über Ufos, Chemtrails und „the fucking system, that observates every fucking human being in the fucking world“. Will fragt vorsichtig nach, ob er es denn für erwiesen hält, dass die Erde flach ist, aber die Spitze wird gekonnt überhört. Bedauerlicherweise fällt Will aber noch ein, dass die beiden freien Betten ja bereits vorreserviert wurden und die beiden Nervensägen ziehen von dannen. 

In der Nachbarschaft gibt es ein wunderbares veganes Restaurant, in dem ich mich täglich zum Schreiben und Mittagessen zurückziehe und mein Lob, der Ort erinnere mich sehr an Berlin, kommt beim Personal gut an. Er ist bemerkenswert, wie sehr sich die jungen Generationen angleichen. Mit den jungen Peruanern kann ich mich meistens wunderbar auf Englisch verständigen, wir feiern die selben Bands und gucken die selben Filme. In meinem Hostel wiederum ist die Amtssprache Spanisch, da es vorwiegend von Native Speakern bewohnt wird. Das spanische Spanisch ist eine Herausforderung sondergleichen, schließlich sprechen Sie wahnsinnig schnell. Das peruanische Spanisch ist deutlich langsamer, wird dafür aber mit Fremdwörtern angereichert, auf die Google Translate keine Antwort weiß. Somit verbringe ich die ersten Abende mit geschlossenem Mund und offenen Ohren und versuche, zumindest grundlegend zu verstehen, worum es in den Gesprächen geht. Ich antworte meistens auf Englisch, wenn das Wort an mich gerichtet wird, da es mir zu unangenehm ist, solchen Runden meine grottige Grammatik zu offenbaren. Bis jetzt gelingt mir kein einziger Satz ohne Fehler, von zufälligen Außnahmen einmal abgesehen. Da ich die Sprache mehr oder weniger beim zuhören und nachsprechen gelernt habe (obwohl „gelernt“ schon sehr schmeichelhaft ist) fehlt mir jeglicher grammatikalischer Unterbau. Die Schnelligkeit des hier gesprochenen Spanischs überfordert mich anfangs noch sehr, aber tatsächlich wird es von Tag zu Tag einfacher, mindestens das Thema herauszuhören. Sehr hilfreich ist vor allem, dass man hier gerne zusätzlich szenisch darstellt, was man gerade erzählt. Dennoch ärgere ich mich, mich nicht intensiver um einen Sprachkurs gekümmert zu haben, bevor ich abgereist bin. Die wirklichen Feinheiten bekommt man natürlich nur dann mit, wenn man die Landessprache einigermaßen beherrscht. Es soll zwar Leute geben, die lediglich durch Zuhören innerhalb sehr kurzer Zeit Sprachen flüssig beherrschen. Vielleicht war dies die bis jetzt größte Erkenntnis meiner Reise - zu diesen Leuten gehöre ich offenbar nicht.7

Dienstag, 19. Februar 2019

6. Strickende Männer

So sehr ich die Stadt auch verflucht hatte: die Fahrt über den Titikaka-See war es wert. Um sieben Uhr in der früh geht es los und wir werden mit einem Mercedes-Sprinter zum Hafen gefahren. Mit einem kleinen Ausflugsdampfer geht es zunächst auf die schwimmenden Insel der Uros, einem alten Indianerstamm, die sich früher aus Schutz vor den angreifenden Inkas mit ihren Strohinsel auf den See zurückzogen und so sehr lange, auch vor den spanischen Übergriffen verschont blieben. An kriegerischen Auseinandersetzungen waren die Ureinwohner offensichtlich nicht sonderlich interessiert. Inzwischen leben die Indianer ausschließlich vom Tourismus, aber immer mehr Uros ziehen inzwischen das moderne Leben mit WiFi und warmen Wasser dem einsamen Leben auf dem See vor. Insbesondere die Männer verlassen den Stamm, zurück bleiben vorwiegend Frauen. Während wir mit einem nachgebauten Uro-Schiff zu einer weiteren Insel gekarrt werden, sitzt eines der Mädchen mit uns im selben Boot und gibt mit monotoner Mine Volkslieder in den anwesenden Landessprachen zum Besten. Die Melodie von „Alle meine Entchen“ ist gerade verklungen, da steht das Mädchen schon neben mir und verlangt mit unbewegten Gesichtsausdruck Geld für seine Darbietung. Ein durchprofessionalisierter Betrieb.
Nach der Begegnung mit den peruanischen Ureinwohnern geht es weiter auf eine weitere Insel, auf der wir dann auch die Nacht verbringen werden. Es fällt auf,  wie wahnsinnig groß der See ist. Nach drei Stunden Fahrt haben wir gerade mal die Bucht von Puno hinter uns gelassen und legen auf Amantani an. Die Dorfgemeinschaft erwartet uns geschlossen am Hafen und wir werden auf die gastgebenden Familien verteilt. Mit meinem neuen besten österreichischen Freund werde ich der Casa von Antonio und Isabella zugewiesen, von meinem Zimmer aus (zum ersten Mal seit über zwei Wochen schlafe ich ganz alleine in einem Raum) habe ich eine traumhaft schöne Sicht auf den See und kann am Horizont die bolivianische Seite erahnen. Isabella kocht für uns ein einfaches Mahl, zu meiner freudigen Überraschung isst man hier nur in extremen Ausnahmefällen Fleisch und die Ankunft von ein paar Touristen scheint nicht wichtig genug zu sein, um eines der Tiere zu schlachten. Hatte ich in Deutschland immer häufiger Ausnahmen meines Vegetarismus gemacht, bin ich hier wieder überzeugter Fleisch-Verweigerer, einfach schon deshalb, weil die Qualität des Billig-Fleisches hier noch auf einem anderen Niveau liegt als in Europa, auch wenn die meisten Peruaner mit Vegetarismus immer noch nicht all zu viel anfangen können.  Die Quinoa-Suppe schmeckt hervorragend und ist genau das richtige, um mit dem Höhenunterschied zurecht zu kommen. Bei der späteren Wanderung zum höchsten Punkt der Insel knacken wir die 4000-Meter Marke und kommen ordentlich ins Keuchen. Auf dem Aussichtspunkt wird einem der Urlauber von einem kleinen Jungen die teure Kamera geklaut, der Übeltäter kann aber später überführt werden. Bürgermeister und Tourguide klopfen an der verdächtigen Tür und erklären der öffnenden Oma den Sachverhalt. Wir werden Zeuge von peruanischer Kindererziehung, als die Oma einen Stein nimmt und den Jungen damit blutig schlägt, bis ich und einige andere Touristen bestürzt dazwischen gehen. Für die Peruaner scheint die Strafe völlig angemessen, zumal es den hier anwesenden offensichtlich höchst peinlich ist, dass sie, als mit Touristen arbeitende Einheimische ihre Kundschaft beklauen. Später erfahren wir noch, dass die heimkommende große Schwester beinahe die Oma verprügelt hat, nachdem sie von der harten Bestrafung erfuhr. Wir merken uns: auf Inseln klauen ist unklug.
Am Abend gibt es ein inszeniertes Dorffest, eine Band spielt schnelle, traditionelle Tanzmusik und wir Touris, davor noch von unseren Gastfamilien mit traditionellen Gewändern ausgestattet, hüpfen ein bisschen durch die Gegend. Während die Frauen helle Kleidung mit bunten Blumenmuster bekommen haben, haben wir Männer nur grobe Ponchos aus noch gröberen Stoff übergestülpt bekommen und ich komme mir etwas trottelig vor. Aber wenn alle bescheuert aussehen, sieht schließlich keiner mehr bescheuert aus.  Die Einheimischen tun noch nicht einmal so, als hätten sie auf die gekünstelte Partystimmung sonderlich viel Lust und fangen nur dann an zu lächeln, wenn sie uns für vergleichsweise viel Geld ein Bier verkaufen können.  
Der zweite Tag beginnt mit einem frühen Frühstück, anschließend geht es erneut mit den Boot auf eine weitere Insel, der ehemaligen Gefängnisinsel Taquile, die im Volksmund auch gerne als die „Insel der strickenden Männer“ bezeichnet wird. Um das Klischee zu erfüllen, werden wir am Hafen von drei Männern empfangen, die alle in ihre Nadeln vertieft sind. Das Erkennungsmerkmal sind lang gezogene Mützen, die sowohl in Farbe als auch Form über den gesellschaftlichen und familiären Status der Trägers Auskunft geben. Die bunteste (und gleichzeitig lustigste) Mütze trägt der Bürgermeister der Insel, eine zur Seite geneigte Spitze weist auf das Single-Sein hin, eine aufrechte Spitze tragen nur die verheirateten Männer. Einer der Mitreisenden, ein peruanischer Schamane, der schon lange in Deutschland wohnt, kann mir ein Gespräch mit einem Einheimischen dolmetschen, als ich ihn fragen möchte, wie es mit der medizinischen Versorgung aussieht. Der arme Mann hat erst vor drei Jahren sein Kind verloren, da sie viel zu spät zum Festland aufgebrochen sind, um den Jungen in vernünftige medizinische Betreuung zu bringen. Der auf der Insel sesshafte Arzt hatte die Blinddarmentzündung nicht als solche erkannt und irgendwelche albernen Blütentinkturen verschrieben. So schön das Leben auf diesen Inseln auch auszusehen scheint: man ist zu einem großen Teil von der Zivilisation abgeschnitten und auch hier ziehen die jungen Leute fast ausnahmslos weg. Zum Studieren, zum Arbeiten oder einfach nur, um nicht immer drei Stunden mit einem Boot zu fahren, um in die nächstgrößere Stadt zu kommen. 
Zurück in Puno fällt mir erneut auf, wie unangenehm ich diese Stadt finde. Auch wenn der Karneval inzwischen vorbei und wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt ist, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass die Stadt wirklich keine Augenweide ist. Der peruanische Baustil, der häufig darauf verzichtet, die Gebäude überhaupt zu verputzen, wird nur durch wenige repräsentative Bauten wie Kirchen oder Rathäuser unterbrochen. Auf den großen Plätzen sind immer noch Horden von Kindern und Jugendlichen zu finden, die sich wüste Schaumstoffspray-Schlachten liefern. Eine Western-Union Filiale finde ich immer noch nicht und gebe die Suche schließlich für Puno auf. In Cusco wird sicherlich alles viel einfacher. Die ehemalige Hauptstadt des Inka-Reiches ist inzwischen das kulturelle und touristische Zentrum Perus geworden. Western Union Fillialen sollten sie wohl haben.

Dienstag, 12. Februar 2019

5. Europäische Arroganz

Es ist einer dieser Tage, in denen mir Südamerika fürchterlich auf die Nerven geht. Ich laufe wie von der Tarantel gestochen durch Puno und suche eine Western Union Filiale. Durch eine ungünstige Verkettung von Umständen wurde meine Visa-Karte gesperrt und als einzigen Ausweg bleibt da nur der Transfer von Bargeld zu einem schlechten Kurs. Doch so einfach wie es sich anhört ist es gar nicht. Zwar haben einige Läden Western Union Schilder draußen hängen, innen drinnen aber schütteln sie nur den Kopf. Ich werde 1 1/2 Stunden lang quer durch die komplette Stadt gejagt und verliere langsam den Verstand. Einer behauptet sogar, dass es in ganz Puno keine Western Union Filiale gibt, eine andere ist sich ganz sicher, dass an der Ecke da drüben auf jeden Fall eine sein müsste. Nichts davon ist wahr und die Erfahrung hatte ich bereits vor vier Jahren in Mexiko gemacht, dass man auf das Wort der Leute nicht all zu viel geben sollte - fragt man Passanten nach der Richtung, sollte man immer drei Leute befragen und sich dann für die Mitte entscheiden. Auch hier fällt mir die Ruppigkeit der Peruaner auf, insbesondere im Vergleich zu meinen Erfahrungen in Kolumbien. Ich werde teils sehr schroff abgewiesen, meine Bitten, ein wenig langsamer zu sprechen, wird nicht nachgekommen. In solchen Stresssituationen wie diesen fällt es wahnsinnig schwer, nicht in europäische Arroganz zu verfallen. Wie gut doch bei uns alles funktioniert, wie gut strukturiert es bei uns zugeht. Moderne Hilfsmittel wie Google Maps helfen einem hier nicht weiter oder lassen dich völlig ins Leere laufen. Zu allem Überfluss ist auch noch Karneval, die Stadt ist also völlig verstopft, teilweise abgesperrt und wahnsinnig laut. Die bunten Kostüme sind wunderschön, die tanzenden Menschen sind es auch, aber leider erreicht mich die Schönheit der Umzüge am heutigen Tage nicht. Als Berliner bin ich was Karneval anging weitestgehend verschont geblieben und alles, was ich bish darüber gehört hatte klang für mich immer so, als würde ich es für kurze Zeit ganz witzig finden und wäre dann schnell genervt. Dasselbe kann ich für den südamerikanischen Karneval sagen. Die tanzenden und singenden Menschen auf der Straße sind für einen gewissen Moment beeindruckend, doch die tosenden Trompeten und stampfenden Trommeln sind derartig monoton und laut, dass ich schon nach kurzer Zeit genug davon habe. Insbesondere, wenn man eigentlich eine verdammte Western Union Filiale sucht. Schreiende kleine Kinder rennen durch die Gegend und spritzen sich mit Kunstschaumpistolen gegenseitig ab. Eines der Kinder erwischt mich ebenfalls und ich gucke leicht genervt zu den Eltern, die damit aber offensichtlich kein Problem haben. Generell ist die Schwelle der Rücktsichtnahme hier anders gesetzt als in Deutschland und weiten Teilen Europas. Es ist für niemanden ein Problem, wenn Menschen in vollbesetzten Nachtbussen laut über ihre Bluetooth-Box Musik hören, auch wenn alle Menschen drumherum nicht mehr schlafen können. Wenn ich eine älteren Dame beim Karneval die Sicht versperre, stößt sie mich rigoros mit ihrem Regenschirm beiseite. Es sind diese Momente, wo ich, trotz aller Liebe zu diesem Kontinent feststelle, dass ich doch ganz gerne in Deutschland wohne und wohl auch erstmal bleiben möchte. 
Vielleicht bin ich aber auch noch zu beseelt von meinem Naturerlebnissen, welche ich das Wochenende davor hatte. Drei Tage bin ich durch den Colca Canyon gewandert, an meiner Seite Fabio, den ich im Hostel in Arequipa kennengelernt hatte. Da wir beide begeisterte Chorsänger sind, hatte wir schnell eine gemeinsame Verbindung - von der Tatsache abgesehen, dass wir beide perfektes Deutsch sprechen. Von Cabana Conde ging es zunächst weitestgehend bergab, die erste Nacht verbrachten wir in einer kleinen Berghütte unmittelbar über dem Fluss, der durch die gerade begonnene Regenzeit viel Wasser mit sich trug und einen gewissen Lautstärkepegel unter jede Unterhaltung gelegt hatte. Am zweiten Tag machen uns sowohl das Wetter als auch  die Nebensaison einen Strich durch die Rechnung, denn das Dorf, dass wir uns zum Übernachten ausgesucht hatten, ist völlig verwaist und das Hostel dementsprechend nicht besetzt. Der langsam einsetzende Regen zwingt uns dazu, die Route zu ändern und nicht die Wasserfälle anzugucken, die wir uns eigentlich vorgenommen hatten. Wir wandern also weitere sieben Kilometer durch den Canyon, zunächst angenehm geradeaus, um dann den finalen Abstieg in die Oasis vorzunehmen. Der dritte Tag ist zwar der kürzeste Wandertag, doch die Etappe hat es in sich. Wir wandern zwar nur 3 Kilometer, legen in dieser Zeit aber stolze 1000 Höhenmeter hinter uns. Ich stoße mehrmals, mit Muskelkater und Blasen an den Füßen, an die Grenze meiner Belastungsfähigkeit und verfluche den verdammten Canyon lautstark, bis ich endlich die letzten Stufen erklimme und mir das letzte Mal das atemberaubende Bergpanorama gebe. Ich verabschiede mich von Fabio und fahre mit zwei sehr alten, aber auch sehr günstigen Bussen durch die Anden in Richtung Puno. Zunächst werde ich mitten im Nirgendwo abgesetzt und stehe auf einem riesigen Plateau inmitten von schneebedeckten Bergen, bis ich den richtigen Bus mit meinem Daumen herauswinke. So schnell und unkompliziert bin ich nie von A nach B, bzw. von Cabana Conde nach Puno gekommen

Die Stadt ist wirklich nicht hübsch, das wurde mir davor schon gesagt, aber sie ist ein guter Ausgangspunkt für schöne Erkundungstouren über den Titikaka-See, der höchstgelegene befahrbare Süßwassersee der Welt. Insbesondere die schwimmenden Insel der Uros möchte ich mir sehr gerne angucken, ein Indianervolk, das sich zum Schutz vor den angreifenden Inkas auf künstliche Schilfinseln zurückgezogen hat und inzwischen vom Tourismus lebt. Zu meinem großen Entsetzen muss ich auch hier feststellen, dass die Wasserqualität des Titikaka-Sees in einem grausamen Zustand ist. Die Silber- und Erzminen, die es früher hier zu Hauf gab, haben ihre gesamten giftigen Abwasser schonungslos in den See gespült. Am Hafen sehe ich, wie reihenweise Plastiktüten- und Flaschen am Ufer vor sich hin treiben. Baden ist also eher nicht. Schade. Hoffentlich fall ich morgen nicht vom Boot. 

Freitag, 8. Februar 2019

4. No Belts allowed

Es ist frisch in Arequipa. Während ich diese Zeilen schreiben, sitze ich in meinem Poncho eingepackt auf der Terrasse meines Hostels, in welches ich mir hier einquartiert habe. Die Stadt liegt tief in den Bergen auf 2000 Metern Höhe. Im Gegensatz zur Metropole Lima ist die Stadt verhältnismäßig klein. Nicht einmal eine Million Menschen wohnen hier, dennoch ist die Stadt die zweitgrößte des Landes. Es geht deutlich ruhiger zu als in Lima, die Stimmung und die milden Temperaturen erinnern mich sehr an San Christobal in Mexiko. Die Regenzeit zeigt sich von seiner hartnäckigen Seite und die immer wieder einsetzenden Regenergüsse testen die Überlebensfähigkeit meines mexikanischen Wunderstoffes. Doch selbst bei strömenden Regen tut der Poncho noch seinen Job und hält mich wohlig warm.
Was ich an südamerikanischen Großstädten so liebe: die interessantesten Sachen entdeckt man eigentlich immer dann, wenn man einfach so, ohne Plan durch die Gegend läuft. Vor meiner 14-stündigen Busfahrt von Ica nach Arequipa war ich aufgrund der zweistündigen Verspätung gezwungen, mich noch ein wenig in Ica umzuschauen. Davon ganz abgesehen, dass die Stadt nicht sonderlich hübsch ist, habe ich dennoch nach zwei Stunden durch die Gegend das Gefühl, mehr peruanisches Leben in mich aufgesogen zu haben als durch irgendeine vorgefertigte Stadtführung. Schon die Menschen auf dem großen Plaza des Armas (den es übrigens gefühlt in jeder Stadt hier gibt) zu beobachten erzählt mir mehr als jedes Museum oder noch so gut geführte Tour der Welt. Ich wohne sehr kurz einem Gottesdienst bei und spüre seit Jahren mal wieder etwas wie Religiosität in mir aufkommen. Und auch hier in Arequipa erlebe ich die witzigsten Situationen beim Zigaretten kaufen. Die Stadt ist an diesen Tagen sehr voll, der chilenische Fußballclub Universidad de Chile ist zu Gast, um das erste von zwei Spielen um die Qualifikation zur Copa Libertadores, der südamerikanischen Champions League auszutragen. Der Lokalclub, der FCB Melbar de Arequipa gilt zwar nicht als die fußballlerische Perle des Landes, hat aber die letzte Saison überraschend auf dem zweiten Platz abgeschlossen. Aus historischen Gründen sind die Chilenen im Rest Südamerikas allerdings nicht sonderlich beliebt, insbesondere bei den Peruanern ist eine gewisse Ablehnung der chilenischen Gäste zu spüren. In der Stadt gibt es immer wieder kleinere und größere Rangeleien zwischen den rivalisierenden Fangruppen und die Polizei hat alle Hände voll zu tun, die temperamentvollen Streithälse voneinander zu trennen. Kein Grund für mich, mir nicht sofort ein Ticket für das Spiel zu kaufen. Aus Platzmangel (die Sicherheitsauflagen sehen vor, dass die Fanlager weit voneinander getrennt sind, weshalb viele Plätze unbesetzt bleiben) bin ich gezwungen, eine Karte im chilenischen Block zu kaufen. Meine neuen besten Freunde aus dem Hostel sind anfänglich noch dabei, wollen dann aber doch nicht mitkommen, weshalb ich kurz darauf alleine Richtung Stadion losstapfe. Bei der Einlasskontrolle muss mein Gürtel leider draußen bleiben, der Sicherheitsmann erklärt mir mit einer entsprechenden Handbewegung, dass diese in peruanischen Stadien gerne als Peitsche missbraucht werden. Ich schließe meinen Gürtel also am Zaun des Stadions fest und vergesse natürlich später beim Auslass, ihn wieder abzuholen. 
Das Spiel beginnt zäh, die peruanische Heimmannschaft startet als klarer Außenseiter gegen die nominell sehr viel stärkeren chilenischen Hauptstädter. Melbar stellt gut die Räume zu und hat zweimal Glück, als Universidad seine wenigen offensiven Aktionen schlampig ausspielt und den Ball am peruanischen Tor vorbeischlägt. In der 50. Minute gelingt den Peruanern ein etwas glückliches Distanztor, was ich leider nicht mitbekomme, da ich mir genau in dem Moment eine Zigarette anzünde. Die Stimmung im chilenischen Block wird allmählich gereizter und die Polizei fängt prophylaktisch schon einmal an, einige der Fans durch die Gegend zu schubsen. Ich suche Schutz und gerate in eine Gruppe Chilenen, die glücklicherweise ein wenig Englisch sprechen und zurzeit in Arequipa einen Freiwilligenjob über ihre Uni machen. Mit ihnen schaue ich mir an, wie Universidad kurz darauf einen Handelfmeter zugesprochen bekommt und ihn unter lautem Getöse  der peruanischen Fans in den Nachthimmel schießt. Der Favorit kommt daraufhin überhaupt nicht mehr zu seinem Spiel, FCB Melbar spielt die restliche halbe Stunde souverän hinunter und hat sogar noch einige Gelegenheiten, den Sack zu zu machen. Auch die hektische Schlussoffensive der Chilenen bringt keinen Ertrag und die peruanischen Fans fangen bereits an, ausgelassen zu feiern. Den Schlusspfiff bekomme ich nicht mehr mit, da meine chilenischen Freunde mir raten, lieber ein wenig früher zu verschwinden, um nicht den Gefühlsausbrüchen der unterlegenen Chilenen beiwohnen zu müssen. Fußball in Südamerika ist tatsächlich jedem zu empfehlen, die Stimmung auf den Rängen ist nicht mit europäischen Maßstäben zu messen. Da die Fans durchgehend singen, kann ich bereits nach zehn Minuten mit einsteigen und rücke mir den Text so zurecht, dass zumindest nicht auffällt, dass ich nur die Hälfte des Inhalts verstehe. 
Das Leben in Arequipa geht still und ruhig vor sich hin. Die Stadt, die auch weiße Stadt genannt wird, hat erst kürzlich von der UNESCO den Status des Weltkulturerbes zugesprochen bekommen. Traurig ist allerdings der Grund, weshalb die Stadt als „weiß“ bezeichnet wird: die erste, harmlosere Erklärung geht auf die Farbe der Häuser zurück, deren Lavagestein der Stadt seine Farbe verliehen hat. Die zweite Erklärung: da die Stadt bis weit ins 19. Jahrhundert ausschließlich europäischen Siedlern vorenthalten und für Peruaner verboten war, war der Begriff bereits in der Alltagssprache populär, bevor man den innerstädtischen Rassismus aufhob und die erstgenannte, etwas harmlosere Erklärung aus dem Boden stampfte. 

Einen interessanten Unterschied konnte ich bereits feststellen: davon abgesehen, dass die Peruaner sehr nuscheln und ich mit meinem langsam besser werdenden Spanisch meine einige Mühe habe hinterherzukommen, ist doch auffällig, dass die Menschen hier deutlich reservierter und zurückhaltender sind als beispielsweise in Kolumbien. Das hat seine Vor- und Nachteile: die Marktschreier hier, die dir das beste Hostel, das beste Essen oder die beste Tour anbieten wollen, treten nach einem freundlichen „Gracias“ sofort zurück, in Kolumbien hätte ich das Gracias, energetisch steigernd, mindestens dreimal wiederholen müssen. Die Leute sind zwar interessiert, aber der spontane Smalltalk auf der Straße, mit dem ich vor vier Jahren beinahe täglich konfrontiert war, entfällt hier fast vollständig. Sich außerhalb seiner Hostelfreundesblase zu bewegen wird dadurch sehr viel schwieriger und ich merke bereits, wie mein Englisch erneut große Sprünge macht, mein Spanisch aber auf einem mickrigen Niveau verharrt. Auch hier gibt es einen Unterschied zwischen Peru und Kolumbien festzustellen. Hatten in Kolumbien die Leute noch auf meinen Hinweis, sehr schlecht Spanisch zu sprechen noch mit Ablehnung und überschwänglichen Lob für meinen Sprachkenntnisse reagiert, nicken die Leute hier nur schief lächelnd mit dem Kopf. Aber das ist wenigstens ehrlich.