Samstag, 9. März 2019

9. Lost in Quechua

Es lässt sich nicht leugnen, dass Cusco eine ganz besondere und eigene Atmosphäre ausstrahlt, wie eine Aura der Ruhe und Ausgeglichenheit, die alle in ihren sanften Schlummer hüllt und Reisende wesentlich länger verweilen lässt als sie es ursprünglich geplant hatten. Ob es die malerische Berglandschaft ist, die sich um die Stadt zieht oder die schmalen Gassen, die so eng sind, dass Mensch und Auto teilweise aberwitzige Verrunken vornehmen müssen, um nicht miteinander zu kollidieren. Oder ist es tatsächlich die alte Magie der Inka, die sich an diesem Ort festgesetzt hat? Allerdings ist innerhalb der Stadt nicht mehr viel von ihr übrig geblieben, die Existenz der ehemaligen Hochkultur wurde von den Spaniern weitestgehend ausradiert. Lediglich die Grundmauern der Inka-Paläste haben sowohl die Brandgeschosse als auch zahllose Erdbeben überstanden. Die riesigen Granitblöcke wurden solange bearbeitet, bis man sie wie ein Puzzle zusammenfügen und verkanten konnte. Das alles durch pure Muskelkraft - Flaschenzug, Rad oder weiteren Schnickschnack kannten die Inka nicht. Zur Demütigung der Vorgängerkultur bauten die Spanier ihren Plaza del Mayor mit wuchtigen Repräsentationsbauten direkt auf der Kreuzung der vier Inka-Hauptstraßen, dem „Nabel der Welt“ und die Grundmauern des zerstörten Sonnentempels dienten als Residenz für den neuen spanischen Stadtherrscher. Die brutale Niederschlagung des Volksaufstand im Jahre 1535 war das letzte große Aufbegehren der Ureinwohner. Die Geschichtswissenschaft geht davon aus, dass in den Jahren 1527 bis 1572 beinahe 90% der indigenen Bevölkerung ausgerottet wurden - 14 Millionen Tote durch Krieg, Krankheiten und Hungersnöte. Es ist einer der größten Genozide der Weltgeschichte, angerichtet von goldgierigen Eroberern, die ihren technologischen Fortschritt als rassische Überlegenheit interpretierten. Und trotzdem, die alte Kultur ist nicht tot. Quechua ist als Amtssprache anerkannt, im Land stolpert man immer wieder, teils unbeabsichtigt über alte Inkabauten und auch im Stadtbild findet man bei genauem Hinsehen immer wieder Symbole trotzigen Wiederstandes. Kirchenfresken enthalten typische Inkasymbole und Altarbilder werden mit Tieren aus der Inkawelt angereichert. In einer Kirche in Arequipa wies mich der Stadtführer auf eine wohlplatzierte Ananas im Kirchenportal hin und ein Altarbild in Cusco zeigte Jesus in der Krippe liegend, nebenan Ochs und Esel und, gut versteckt im Hintergrund zieht ein Condor seine Kreise. Es sind Relikte der späten Inka, also den schmalen 10% des früheren Hochadels, die die Katastrophenjahre überlebt und ihre Leben mit den spanischen Eroberern arrangiert hatten. Ihre Kultur und ihre Sprache leben bis heute fort. Wie ich noch erfahren sollte, ist Quechua in einigen Teilen des Landes bis heute weit verbreitet. In weiten Teilen der Bevölkerung ist aber wenig Rückbesinnung auf die Vorfahren vorhanden - sie kennen die Inka vermutlich nur noch als Namensgeber für Inca Kola, ein widerlich süßes Getränk mit Kaugummigeschmack. Das Produkt gehört - wie könnte es anders sein - der Coca Cola Company. Die letzte große Demütigung einer ehemals so stolzen Hochkultur.
Nach nun mehr einen Monat Reisen kann ich folgende Veränderungen bei mir feststellen: ich bin zum Inka- und Wandernerd mutiert. Durch das Wandern habe ich erfreulich abgenommen und ich stelle fest, dass mich Großstädte und große Menschenansammlungen, auch, wenn nicht sogar insbesondere, in Form von großen Partys in vollen und lauten Bars oder Clubs überhaupt nicht ansprechen. Ich suche mir also mit Hilfe des allmächtigen Internets Tips und Anregungen für eine kurze, aber intensive Wandererfahrung und beschließe, diese Route anleine zu meistern. Auch wenn ich die Quelle ein wenig zweifelhaft finde (das Men Journal war mir bis dahin noch nicht untergekommen) scheint die Route eigentlich ganz simpel und durchaus machbar. Über zwei Collectivos erreiche ich die Zufahrtsstraße zum kleinen Örtchen Soqma. Das zuvor noch sehr gelobte maps.me enttäuscht aber, als es den Wanderweg nur sehr unpäzise angibt und ich teilweise querfeldein durch die Gegend irre. Nach über 1 1/2 Stunden erreiche ich endlich das verschlafene Soqma, decke mich mit Wasser ein und mache mich auf zum Endpunkt meines heutigen Tages: das noch kleinere Rayon. Unterwegs komme ich an einem malerischen Wasserfall vorbei und laufe unbeabsichtigt an einem alten Inka Außenposten vorbei, der früher als Raststation für Reisende von Cusco nach Machu Picchu gedient haben soll. Ich stoße auf eine englisch sprachige Wandergruppe, die nur unweit von hier ihr Lager aufgeschlagen haben. Sie werden professionell geleitet und fragen mich, ganz im kumpelhaften Wanderertonfall, ob ich denn auch ein gutes Zelt mitgenommen habe, schließlich werden die Nächte hier sehr frisch. Ich fühle mich dumm und extrem unvorbereitet, habe ich doch weder ausreichend Proviant, geschweige denn ein Zelt dabei - ich war davon ausgegangen, dass die Wanderroute touristisch erschlossen sei, so wie bis jetzt alle meine Wanderrouten. Bei Salkantay hatte ich mich noch geärgert, die Wanderung nicht ohne Tour gemacht zu haben, schließlich  hätte man weder Essen noch Zelt dabei haben müssen. Diese Route allerdings ist so ziemlich das Gegenteil von touristisch erschlossen und das Örtchen Rayon entpuppt sich als Bauernkaff mit einem Dutzend Hütten. Eine Übernachtungsmöglichkeit gibt es hier nicht. Ich frage bei einer der Hütten nach. Mir öffnet eine alte peruanische Mutti, die mit ihren drei Kindern, drei Katze, vier Hunden, einigen Hühnern und einigen Meerschweinchen unter dem Bett in ihrer kargen Behausung lebt. Die Reaktion ist zunächst äußerst ablehnend und meine Frage, ob sie denn ein Zelt da haben wird zunächst verneint. Während ich ihre Kinder gut verstehe, verstehe ich die Mutti überhaupt nicht. Ich weiß, dass mein Spanisch nicht brillant ist, aber so schlecht ist es doch nun auch wieder nicht! Auf meine Bitte, etwas langsamer zu reden geht sie dazu über, sich direkt vor mich zu stellen und in ihrem Kauderwelsch anzubrüllen. Mein Verständigungsproblem bleibt dadurch aber weiter bestehen, bis mir die Tochter erklärt, sie hätten schon ein Zelt, doch das müsse letztendlich der Papa entscheiden, der käme allerdings erst in ein paar Stunden. Wie auf Kommando kommt nur zwei Minuten später der Papa vorbei und das Zelt wird aus dem verstaubten Schuppen gebracht. Ich baue mit dem Sohn zusammen bei allmählich einsetzendem starken Wind das Zelt auf und stoße ein Gebet zum Himmel, dass es in dieser Nacht nicht regnet. Das altersschwache Zelt sieht für solche Witterungsbedingungen nicht sonderlich gemacht aus. Auch meiner Bitte nach Essen wird nachgekommen, als ich selbstverständlich anbiete, dafür auch zu bezahlen. Um den falschen ersten Eindruck wettzumachen lässt man mich am besten Platz des Hauses speisen und die Mutti rückt missmutig das Sitzkissen direkt an der Feuerstelle zurecht. Nach wenigen Minuten stinke ich komplett nach Rauch, genauso wie die gesamte Strohhütte. Die Meerschweinchen quieken in ihrem Bett unterm Käfig, die Mutti verscheucht mit einem Stockhieb die bettelnden Hunde und labert weiterhin in ihrer eigenartigen Sprache vor sich hin. Wirklich willkommen bin ich aber immer noch nicht. Sie berechnet mir erneut Geld, als ich frage, ob ich mein Handy für eine Weile aufladen kann, denn zumindest eine Stromleitung und fließendes Wasser sind als technologische Neuerung bereits im entfernten Andengebiet angekommen. Tatsächlich verfügt sogar die Mutti über ein Smartphone und als jemand anruft sieht man deutlich die Abneigung, die sie diesen neuartigen Geräten entgegenbringt. Als ich mich erneut in die Küche setze um mir beim Schein der einzigen Glühlampe ein paar Notizen zu machen, wirft sie mich energisch hinaus und ich lege mich ins Zelt. Die Harmonie rettet dann einer der Hunde, der sich anschickt, mit mir ins Zelt hineinzuklettern und als ich ihm das verwehre, die ganze Nacht direkt neben der Zeltplane verbringt und mir zumindest ein wenig Wärme spendet. Die Nacht wird frostig kalt und mein Schlafsack erweist sich als nicht ebenbürtig. Wieviel ich letztendlich geschlafen hab weiß ich nicht, als ich gegen sieben Uhr morgens aus dem Zelt steige und der Mutti ihre geforderten dreißig Soles (ca. 8€) in die Hand drücke. Für sie vermutlich eine Monatseinnahme. 

Meine heutige Etappe führt mich nun auf stolze 5.100 Höhenmeter und ich schwöre, mich nie wieder auf fragwürdige Quellen im Internet zu verlassen. Ich treffe die Wandergruppe von gestern wieder, deren Gepäck und Verpflegung auf Maultieren durch die Gegend getragen wird. Ich schließe mich kurzerhand an und stelle erneut fest, dass man nie alleine reist, wenn man alleine reist. Der Tourguide klärt mich auch endlich über den komischen Kauderwelsch der Mutti auf. Sie hat tatsächlich Quechua gesprochen, die Kinder wiederum hatten Spanisch in der Schule gelernt. Das sprachliche Erbe der Inka lebt also in solchen kautzigen und ruppigen peruanischen Bergmuttis nach. Die Gastfreundschaft des Tourguides jedoch ist mit ihrer nicht zu vergleichen, ich werde sofort als Hilfesuchender in die Gruppe aufgenommen und mir wird großzügig etwas vom Essen abgegeben. Ohne diese Gruppe wäre ich völlig aufgeschmissen gewesen. Die Wanderung führt über malerische Bergrücken, tiefgrüne Steppen und malerische Schluchten. Auch hier sind die landschaftlichen Hinterlassenschaften praktisch überall bemerkbar. Die Berghänge bilden bis heute noch die für die Landwirtschaft der Inka typische Terassenform und der Höhepunkt der Tour bildet das auf einem Felsen gebaute alte Sonnentor. Der Tourguide weist mir den Weg hinunter ins Tal. Über sehr alte Trampelpfade gelange ich hinunter, zurück in die Zivilisation. Das eigentlich Ziel meines Ausflugs waren die alten Stadtanlagen von Cachicata, doch diese sind nicht alt und verlassen, sondern wurden von den jetzigen Bewohnern mit Leben gefüllt. In die alten Grundmauern hat man neue Häuser in der landestypischen Bauweise errichtet: ein- bis zweigeschössige Bauten aus Ziegelsteinen, die man vermutlich aus Geldmangel nicht weiter verputzt, sondern sie in ihrem ursprünglichen Aussehen belässt. Ich gerate zufällig in ein familieninternes Karnevalsfest. Die ganze Mannschaft, inklusive Oma und kleinen Kindern tanzen um einen mit neuem Kochgeschirr geschmückten Baum und jeder darf dreimal mit einer großen Axt auf den reichlich lädierten Stamm einkloppen. Auch mir wird diese Ehre zuteil, genauso wie mehrere Flaschen Bier, dir mir in kurzer Zeit angeboten werden. Die peruanische Gastfreundschaft wird um ein letztes Mal tapfer verteidigt.  

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