Dienstag, 19. Februar 2019

6. Strickende Männer

So sehr ich die Stadt auch verflucht hatte: die Fahrt über den Titikaka-See war es wert. Um sieben Uhr in der früh geht es los und wir werden mit einem Mercedes-Sprinter zum Hafen gefahren. Mit einem kleinen Ausflugsdampfer geht es zunächst auf die schwimmenden Insel der Uros, einem alten Indianerstamm, die sich früher aus Schutz vor den angreifenden Inkas mit ihren Strohinsel auf den See zurückzogen und so sehr lange, auch vor den spanischen Übergriffen verschont blieben. An kriegerischen Auseinandersetzungen waren die Ureinwohner offensichtlich nicht sonderlich interessiert. Inzwischen leben die Indianer ausschließlich vom Tourismus, aber immer mehr Uros ziehen inzwischen das moderne Leben mit WiFi und warmen Wasser dem einsamen Leben auf dem See vor. Insbesondere die Männer verlassen den Stamm, zurück bleiben vorwiegend Frauen. Während wir mit einem nachgebauten Uro-Schiff zu einer weiteren Insel gekarrt werden, sitzt eines der Mädchen mit uns im selben Boot und gibt mit monotoner Mine Volkslieder in den anwesenden Landessprachen zum Besten. Die Melodie von „Alle meine Entchen“ ist gerade verklungen, da steht das Mädchen schon neben mir und verlangt mit unbewegten Gesichtsausdruck Geld für seine Darbietung. Ein durchprofessionalisierter Betrieb.
Nach der Begegnung mit den peruanischen Ureinwohnern geht es weiter auf eine weitere Insel, auf der wir dann auch die Nacht verbringen werden. Es fällt auf,  wie wahnsinnig groß der See ist. Nach drei Stunden Fahrt haben wir gerade mal die Bucht von Puno hinter uns gelassen und legen auf Amantani an. Die Dorfgemeinschaft erwartet uns geschlossen am Hafen und wir werden auf die gastgebenden Familien verteilt. Mit meinem neuen besten österreichischen Freund werde ich der Casa von Antonio und Isabella zugewiesen, von meinem Zimmer aus (zum ersten Mal seit über zwei Wochen schlafe ich ganz alleine in einem Raum) habe ich eine traumhaft schöne Sicht auf den See und kann am Horizont die bolivianische Seite erahnen. Isabella kocht für uns ein einfaches Mahl, zu meiner freudigen Überraschung isst man hier nur in extremen Ausnahmefällen Fleisch und die Ankunft von ein paar Touristen scheint nicht wichtig genug zu sein, um eines der Tiere zu schlachten. Hatte ich in Deutschland immer häufiger Ausnahmen meines Vegetarismus gemacht, bin ich hier wieder überzeugter Fleisch-Verweigerer, einfach schon deshalb, weil die Qualität des Billig-Fleisches hier noch auf einem anderen Niveau liegt als in Europa, auch wenn die meisten Peruaner mit Vegetarismus immer noch nicht all zu viel anfangen können.  Die Quinoa-Suppe schmeckt hervorragend und ist genau das richtige, um mit dem Höhenunterschied zurecht zu kommen. Bei der späteren Wanderung zum höchsten Punkt der Insel knacken wir die 4000-Meter Marke und kommen ordentlich ins Keuchen. Auf dem Aussichtspunkt wird einem der Urlauber von einem kleinen Jungen die teure Kamera geklaut, der Übeltäter kann aber später überführt werden. Bürgermeister und Tourguide klopfen an der verdächtigen Tür und erklären der öffnenden Oma den Sachverhalt. Wir werden Zeuge von peruanischer Kindererziehung, als die Oma einen Stein nimmt und den Jungen damit blutig schlägt, bis ich und einige andere Touristen bestürzt dazwischen gehen. Für die Peruaner scheint die Strafe völlig angemessen, zumal es den hier anwesenden offensichtlich höchst peinlich ist, dass sie, als mit Touristen arbeitende Einheimische ihre Kundschaft beklauen. Später erfahren wir noch, dass die heimkommende große Schwester beinahe die Oma verprügelt hat, nachdem sie von der harten Bestrafung erfuhr. Wir merken uns: auf Inseln klauen ist unklug.
Am Abend gibt es ein inszeniertes Dorffest, eine Band spielt schnelle, traditionelle Tanzmusik und wir Touris, davor noch von unseren Gastfamilien mit traditionellen Gewändern ausgestattet, hüpfen ein bisschen durch die Gegend. Während die Frauen helle Kleidung mit bunten Blumenmuster bekommen haben, haben wir Männer nur grobe Ponchos aus noch gröberen Stoff übergestülpt bekommen und ich komme mir etwas trottelig vor. Aber wenn alle bescheuert aussehen, sieht schließlich keiner mehr bescheuert aus.  Die Einheimischen tun noch nicht einmal so, als hätten sie auf die gekünstelte Partystimmung sonderlich viel Lust und fangen nur dann an zu lächeln, wenn sie uns für vergleichsweise viel Geld ein Bier verkaufen können.  
Der zweite Tag beginnt mit einem frühen Frühstück, anschließend geht es erneut mit den Boot auf eine weitere Insel, der ehemaligen Gefängnisinsel Taquile, die im Volksmund auch gerne als die „Insel der strickenden Männer“ bezeichnet wird. Um das Klischee zu erfüllen, werden wir am Hafen von drei Männern empfangen, die alle in ihre Nadeln vertieft sind. Das Erkennungsmerkmal sind lang gezogene Mützen, die sowohl in Farbe als auch Form über den gesellschaftlichen und familiären Status der Trägers Auskunft geben. Die bunteste (und gleichzeitig lustigste) Mütze trägt der Bürgermeister der Insel, eine zur Seite geneigte Spitze weist auf das Single-Sein hin, eine aufrechte Spitze tragen nur die verheirateten Männer. Einer der Mitreisenden, ein peruanischer Schamane, der schon lange in Deutschland wohnt, kann mir ein Gespräch mit einem Einheimischen dolmetschen, als ich ihn fragen möchte, wie es mit der medizinischen Versorgung aussieht. Der arme Mann hat erst vor drei Jahren sein Kind verloren, da sie viel zu spät zum Festland aufgebrochen sind, um den Jungen in vernünftige medizinische Betreuung zu bringen. Der auf der Insel sesshafte Arzt hatte die Blinddarmentzündung nicht als solche erkannt und irgendwelche albernen Blütentinkturen verschrieben. So schön das Leben auf diesen Inseln auch auszusehen scheint: man ist zu einem großen Teil von der Zivilisation abgeschnitten und auch hier ziehen die jungen Leute fast ausnahmslos weg. Zum Studieren, zum Arbeiten oder einfach nur, um nicht immer drei Stunden mit einem Boot zu fahren, um in die nächstgrößere Stadt zu kommen. 
Zurück in Puno fällt mir erneut auf, wie unangenehm ich diese Stadt finde. Auch wenn der Karneval inzwischen vorbei und wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt ist, kann man nicht darüber hinwegsehen, dass die Stadt wirklich keine Augenweide ist. Der peruanische Baustil, der häufig darauf verzichtet, die Gebäude überhaupt zu verputzen, wird nur durch wenige repräsentative Bauten wie Kirchen oder Rathäuser unterbrochen. Auf den großen Plätzen sind immer noch Horden von Kindern und Jugendlichen zu finden, die sich wüste Schaumstoffspray-Schlachten liefern. Eine Western-Union Filiale finde ich immer noch nicht und gebe die Suche schließlich für Puno auf. In Cusco wird sicherlich alles viel einfacher. Die ehemalige Hauptstadt des Inka-Reiches ist inzwischen das kulturelle und touristische Zentrum Perus geworden. Western Union Fillialen sollten sie wohl haben.

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