Freitag, 1. März 2019

8. Salkantay

Wir schreiben das Jahr 1450, als Pachacútec Yupanqui, der 9. Herrscher des Inkareiches den Befehl gibt, auf dem Bergrücken das Machu Picchu eine Residenzstadt zu errichten. Sie soll ihm als Refugium für seine Aufenthalte in der Hauptstadt Cusco dienen, die etwa 75 Kilometer  weit entfernt liegt. Dem Weltbild der Inka nach hatte Pachamama, die Götting der Schöpfung und Vollkommenheit, sich über die Mamaqucha, der Göttin des Meeres und des Wasser gelegt. Die Berge galten somit als Bindeglied zwischen Ober- und Unterwelt und wurden auch als die Brüste der Pachamama bezeichnet (noch verwirrender: ohne das nur ganz leicht ausgesprochene „k“ in Picchu wird es leicht obszön - Pichu heißt nämlich „Penis“ auf Quechua). Die Stadt, malerisch gelegen zwischen den beiden Berggipfeln Machu Picchu (alter Berg) und Huayna Picchu (junger Berg) konnte bis zu 1000 Leuten beherbergen und mit Nahrungsmitteln versorgen. Die Terassenbauten um die Stadt herum wurden mit Mais, Maniok und Quinoa bepflanzt. Die Kanalsysteme zur Bewässerung der Pflanzen und zum Ablassen der heftigen Regenfälle im Stadtbereich waren beachtlich und bereits die Vorgängerkulturen, die sich die Inka einverleibt hatten, nutzen diese Technik. Die Inka kannten weder das Rad, noch die Mathematik, lediglich ihre minutiöse Kalkulation sämtlicher Vorkomnisse - von der exakten Anzahl des eingefahrenen Getreides bis zur genauen Vorhersage für Wetterumbrüche machten sie zur einflussreichsten Hochkultur Südamerikas. Ihre bürokratische Arbeit ist heute leider nur noch in Teilen nachzuvollziehen, zumal ihre Schrift bis heute nicht einwandfrei entschlüsselt werden konnte. Bei der vollständigen Zerstörung des antiken Cuscos gerieten die meisten Aufzeichnungen in Brand und wurden vernichtet. Die wenigen Überbleibsel der Inka in dieser früheren Weltstadt beschränken sich auf die Grundmauern der früheren Paläste und Tempel, die aus ineinander verkeilten schweren Granitsteinen bestanden. Diese überlebten sowohl einige heftige Erdbeben als auch die Brandgeschosse der Spanier. Ansonsten schwankt der Kult um die Inka irgendwo zwischen Touristenbespaßung und Tradition, die aber soweit zurückliegt, dass nur die allerwenigsten sich tatsächlich der Vorgänger zugehörig fühlen.
Es wundert einen nicht, dass die Spanier Machu Picchu niemals gefunden haben, denn sie liegt geographisch so ungünstig, dass sich vermutlich bis heute gewiefte Tourismusunternehmer gewaltig ärgern, diesen Flecken Erde nicht noch weiter kommerziell ausschlachten zu können. Als Entdecker gilt zwar gemeinhin der Amerikaner Hiram Bingham, der im Jahre 1911, begleitet von einem peruanischen Bergbauern und dessen Sohn die überwucherte Ruinenstadt international bekannt machte, doch gibt es deutliche Hinweise darauf, dass über die Jahrhunderte viele Menschen über die Existenz dieser Festung Bescheid wussten und diese entweder kartographisch skizzierten oder in weiteren offiziellen Stellen Angaben zur Existenz einer unbekannten Ruinenstadt machten. Wenige Wochen vor Binghams Expedition scheiterte bereits ein Forscher der Yale-Universität mit seinem Gefolge am schlechten Wetter, seine Erfahrungen machte sich Bingham zu nutzen. Bis heute tobt ein erbitterter Streit zwischen peruanischer Regierung und Yale University, die sich weigert, einige der Orginalexponate zurück nach Peru zu entsenden - Bingham hatte die Entdeckung der Stadt fast zwei Jahre geheim gehalten, um einige Ausstellungsstücke ungestört in die USA transportieren zu können. Nichtsdestotrotz ist Machu Picchu zu den neuen sieben Weltwundern erklärt worden. Es ist das Wahrzeichen Perus, das fast jeder Mensch auf der Welt kennt und für einen Peruaner gibt es vermutlich nichts erfüllenderes, als einmal ein Selfie mit Sich und der Ruinenstadt im Hintergrund zu knipsen. 
Über hundert Jahre nach der Entdeckung würde ein Hiram Bingham sein Machu Picchu wohl nicht mehr wieder erkennen. Der Bau der nach ihm benannten Eisenbahnstrecke von Cusco in das neu gegründete Touristen-Dorf Aguas Calientes dauerte ganze 15 Jahre und legte den Grundstein für den inzwischen kaum einzudämmenden Massentourismus. Jahr für Jahr nehmen die Ströme zu, in der Hochsaison machen sich täglich bis zu 6000 Menschen auf den Weg, um die Ruinenstadt zu begutachten. Die UNESCO forderte jahrelang vergeblich, die Touristenzahl auf maximal 850 pro Tag zu begrenzen. Erst einige Erdrutsche, die sowohl Tote forderten als auch die Bahnstrecke unpassierbar machten, lösten ein Umdenken der Tourismusbetreiber aus. Inzwischen sind die Besucherkapazitäten begrenzt und der geplante Bau einer Seilbahn, der sowohl den Touristenstrom vergrößern als auch die Landschaft verschandelt hätte, ist zunächst auf Eis gelegt. 
Nun gibt es viele Möglichkeiten, sich Machu Picchu anzunähern. Auch wenn die Stadt nur 75 Kilometer von Cusco entfernt liegt, ist der Weg dorthin nicht ganz einfach. Man kann sich natürlich langweilig und kostspielig in die bereits erwähnte Schmalspurbahn setzen und von Cusco aus direkt nach Aguas Calientes fahren. Alternativ kann man sich auch mit Sprintern in das nah gelegene Hidroelectrica kutschieren lassen, wird dabei aber sehr überrascht sein, wie lange man fahren kann, um gerade mal 75 Kilometer Luftlinie zu überwinden. Oder aber man macht es wie ein echter Inka und nimmt einen der vielen alten Inka-Pfade, die sich kreuz und quer durch den gesamten Kontinent ziehen (wie bereits erwähnt - das Straßennetz der Römer war kleiner). Der klassische Inkapfad von Cusco nach Machu Picchu ist zurzeit wegen der Regenzeit gesperrt, doch der Salkantay Trek, der direkt am 6264 Meter hohen Salkantay vorbeiführt und ein abwechslungsreiches Naturerlebnis bietet, wurde mir schon mehrmals wärmstens empfohlen. 
Um 5 Uhr in der früh fahren wir los, meine Gruppe besteht aus drei weiteren Deutschen, einer chilenischen Familie sowie unserem Tourguide mit seinem Gefolge. Ohne dass wir großartig etwas davon mitbekommen, wird für unser leibliches Wohl gesorgt. Während wir uns die nächsten fünf Tage auf teilweise 5000 Höhenmeter durch die Gegend schleppen, ziehen immer wieder Maultierkarawanen mit unserem Gepäck und unserem späteren Abendessen ans uns vorbei. Unsere Wandergruppen wird feierlich auf den Namen „Sexy Lamas“ getauft und kurz darauf ziehen die erotischen Nutztiere auf und davon. Unser Tourguide hat sich leider eine schwierige Gruppe ausgesucht, denn wie es unsere deutsche Art ist, ziehen wir vier schnell davon, während die chilenische Familie den Trail gewaltig unterschätzt hat. Schon am ersten Tag gibt die Mutti nach der Hälfte der Strecke auf und muss den zweiten Tag, den in der Tat gewaltigen Aufstieg zum Salkantay-Pass auf einem Pferd hinter sich bringen. Sowohl Sohn als auch Papa sind davon sichtlich genervt, hatten sie sich doch auf einen fröhlichen Wanderurlaub eingestellt, für den sie im Übrigen sehr viel Geld gezahlt haben - und ironischerweise deutlich mehr als wir. War ich in Cusco von Tourismusbüro zu Tourismusbüro gezogen, um den besten Preis rauszuhandeln, hatten die Chilenen das ganze im Vorraus über TripAdvisor gebucht. Für ca. 300$ - und damit mehr als das doppelte als ich und die restlichen Reisende aus unserer Gruppe. Dabei spielt dieser Preisunterschied für unseren Tourguide, unseren Koch und seinen Assistenten, die still im Hintergrund uns eine angenehme Wanderung ermöglichen, keine Rolle. Ihr Gehalt bleibt stets gleich. Das Muster zieht sich durch den gesamten Trail, auch in Aguas Calientes hat man nicht unbedingt das Gefühl, dass das viele Geld, was in und um Machu Picchu verdient wird, bei allen Beteiligten gleichmäßig ankommt. International agierende Firmen scheinen sich nebenbei extrem viel Geld in die eigene Tasche zu stecken, Teile des Tourismus um Machu Picchu sind privatisiert. So sind beispielsweise die Nachfahren Binghams immer noch an der Zugstrecke beteiligt und verdienen mit jedem verkauften Ticket bares Geld. Von Arbeits- und Krankenversicherung für die im ökologischen Tourismus Beteiligten kann man wohl nur träumen. Unser Guide erzählte uns beim Abendessen, sollte irgendeinem seiner Wanderer etwas zustoßen - durch einen Erdrutsch, Unachtsamkeit des Wanderers oder was auch immer - gehe er erstmal ohne große Verhandlung für sechs Wochen in den Knast. Seine Liebe zu den Bergen scheint aber unerschütterlich zu sein. Als ihn seine Frau letztens vor die Wahl stellte, sich für sie oder die Berge zu entscheiden, war seine Entschluss schnell gefällt. Ein wahrlich schräger Vogel, doch was kann man von jemandem anderes erwarten, der gerne beruflich in teilweise sehr schwierigem Gelände Touristenscharen durch die Gegend führt. Die Regenzeit verwandelt die Umgebung in reißende Bäche, Wanderpfade werden durch die Wassermassen unpassierbar und das ein oder andere Mal laufen wir an gewaltigen Erdrutschen vorbei, die tatsächlich immer wieder Wanderern das Leben kosten.
Schon am Tag zwei wird einem bewusst, warum die Inka diese Gegend als von den Göttern gesegnet empfunden haben. Der Salkantay erstreck sich in einer solchen Schönheit vor uns, dass man weinen möchte. Noch nie im Leben war ich einem Gletscher derartig nah. Der Hinweis unseres Tourguides, dass der Gletscher vor fünf Jahren noch einige Meter näher war, macht mich sehr nachdenklich. Dank Trump, AfD und weiteren Vollidioten haben sich inzwischen viele mit dem Gedanken angefreundet, der Klimawandel sei vielleicht doch nicht menschengemacht und ja auch gar nicht so schlimm (meine Lieblingsaussage dazu: der Klimawandel verschiebe lediglich die fruchtbaren Böden weiter Richtung Norden). Was der Klimawandel für die hier ansässigen Einheimischen bedeutet kann man schon daran erkennen, dass der Gletscher als Trinkwasserquelle Jahr für Jahr weiter nach hinten wandert. 
Hinter dem Bergpass geht es unvermittelt steil bergab und Vegetation und Temperatur ändern sich rapide. Am Fuße des Gletschers stand ich noch dick eingepackt, mit Poncho, Schal, Mütze und Handschuhen. Nach einigen hundert Metern packe ich meine Polarausrüstung schwitzend in meinen Rucksack und lege den Rest des Weges im T-Shirt zurück. Schwülwarme Luft empfängt mich im im sogenannten Heiligen Tal, das durch heißes Vulkangestein unterhalb der Erdoberfläche auf knapp 3000m ein subtropisches Klima erzeugt. Die Inka empfanden diesen Ort als eine Verschmelzung zwischen Pachamama und Mamaqucha, also eine Verbindung zwischen Ober- und Unterwelt. Die heißen Quellen, die wir am dritten Tag aufsuchen (was nach drei Tagen wandern übrigens eine wunderbare Idee ist) waren ebenfalls den Inka bekannt und ein beliebter Ort für alle möglichen Rituale.
Die Ankunft in Aguas Calientes am Tag vier ist nicht ganz so spektakulär wie die vorigen Wanderungen, schließlich ist der Ort absolut grauenvoll und existiert nur, damit der durchschnittliche Tourist einen Platz hat, an dem er seinen breiten Arsch bequem in ein Bett transferieren kann, nachdem er ihn bereits im Zug oder Sprinter plattgesessen hat. Ich habe seit vielen Wochen mal wieder ein Zimmer für mich alleine, allerdings fensterlos und schmutzig. Um vier Uhr in der früh Wandern wir zum Machu Picchu hoch. Mit einigen weiteren Wandergruppen, mit denen ich mich in den letzten Tagen angefreundet habe, kämpfen wir uns über eine Stunde lang die 1200 Stufen zum eigentlichen Ziel unserer Reise hoch, während um uns herum die Sonne langsam aufgeht und die Landschaft in ein magisches Licht taucht. Immer wieder schieben sich kleine Wolken durch die Berge, wie als hätte jemand eine überdimensionierte Nebelmaschine angeschmissen. Genau diese Nebelmaschine hat schon einigen das Erlebnis Machu Picchu ziemlich vermiest. Ein ziemlich beliebter Witz unter Reisenden ist es, sich gegenseitig Fotos von Machu Picchu zu präsentieren und dabei nur ein Foto einer riesigen Wolke zu zeigen. Wir haben wahnsinniges Glück. Noch vor der Sonne erreichen wir die alte Ruinenstadt und ich bin unvermittelt wahnsinnig ergriffen von dieser Schönheit. Wenige Kulturen haben ihre Städte so passgenau in die vorhandene Natur gesetzt wie die Inka, Stadt und Umgebung harmonieren friedlich miteinander. Nicht ganz so friedlich sind die allmählich mehr werdenden Touristen. Nach einem kleinen Fußmarsch auf dem alten Orginal-Inkapfad gelange ich zum Sonnentor, dem eigentlich Eingang zu Machu Picchu und kann mit meinen neuen besten Wanderfreunden beobachten, wie die Traube an Menschen auf dem Aussichtsplateau immer mehr wird. Auf dem Rückweg rempelt mich von hinten eine Frau an und beschwert sich lautstark bei ihrem Mann, wie sehr es sie doch nervt, dass in diesem Land ständig jemand im Weg steht. Zu ihrem großen Pech sprechen sowohl sie als auch ich (und vermutlich auch ihr Mann) hervorragendes Deutsch und als ich mich umdrehe und erwidere, dass ich das sehr gut nachvollziehen kann, wird es ganz still um sie.  

Die Rückfahrt von Hidroelectrica erfolgt mit dem Bus und wir haben ein letztes Mal die Gelegenheit, das atemberaubende Bergpanorama zu genießen. Die eigentlich kurze Strecke dauert dann doch beeindruckende sechs Stunden und ich fühle bereits ein wenig Abschiedsschmerz. Sowohl Machu Picchu als auch der Salkantay waren mit einer der beeindruckendsten Dinge, die ich bisher in meinem Leben gesehen habe. So sehr, dass ich mich entschließe, den Salkantay für immer mit mir herumzutragen. In einer fünfstündigen und äußerst schmerzhaften Prozedur lasse ich mir den Salkanay auf den linken Oberarm brennen. Salkantay for Life.

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