Ich sitze spätnachts am winzig kleinen Provinzflughafen von Leticia. Ich hatte das Reisebüro gebeten, mir einen Flug für Sonntag nach Bogota zu reservieren, dass der Flieger aber um drei Uhr nachts abhebt war nicht vorher abzusehen. Der gesamte Flughafen sieht aus wie aus einem anderen Jahrtausend. Die einzige Verbindung, die hier angeboten wird ist der ca. 2-stündige Flug in die kolumbianische Hauptstadt und neben dem Schiffverkehr über den mächtigen Amazonas ist es die einzige Anbindung an den Rest der Welt, den diese Stadt hat. Nach meinen langen Wochen in den hohen Andenregionen Perus ist das Amazonasgebiet der direkte Kontrast. Anstatt mehreren tausend Höhenmetern sind es nun ziemlich genau null, anstatt nachts zu frösteln bleibt es die ganze Zeit schwül warm und auch die Mentalität hat sich schlagartig geändert, als ich in Iquitos, dem peruniaschen Pendant zu Leticia aus dem Flieger geklettert bin. Hatten die südperuanischen Taxifahrer mein Schweigen ebenfalls wortlos aktzeptiert, werde ich von meinem Tuktuk-Fahrer zugetextet und überschwänglich für mein Spanisch gelobt. Nach mehreren Wochen mit spanischer Dauerbeschallung tritt auch bei mir der wunderbare Effekt ein, aus dem vorher noch unverständlichen Geschnatter mehr und mehr zu verstehen und meine Antworten werden allmählich ausgefeilter und raffinierter.
Iquitos ist eine Stadt, die eigentlich nicht existieren dürfte. Sie liegt, für den Rest der Welt unerreichbar mitten im peruanischen Dschungel, eine Direktanbindung ans Straßennetz existiert nicht. Man könnte annehmen, dass eine so abgeschiedene Stadt nicht sonderlich bedeutend sein kann, allerdings ist sie mit 400.000 Einwohnern eine der Größten des Landes. Zusammen mit meiner lieben Freundin, die in der Zwischenzeit zu mir gestoßen ist, erkunde ich diese lärmige und schmutzige Metropole. Gemeinsam besteigen wir eines der berüchtigten „barco lentos“, alte Transportpötte, die zwei Decks für mitfahrende Passagiere bereithalten, um sie durch den Amazonas zu tuckern. Die Ausstattung ist sehr schlicht. Man hängt einfach seine Hängematte in den dafür vorgesehenen Vorrichtungen auf und hofft, dass einem die anderen Peruaner nicht zu nah auf die Pelle rücken. Man reist hier gerne mit der gesamten Familie, das bedeutet, dass wir uns kurz darauf eingequetscht zwischen lauten Kindern und meckernden Omas wiederfinden, während eine Etage unter uns der gesamte Hausrat mit transportiert wird. Der Amazonas, der wasserreichste Fluss der Welt ist der Ausgangspunkt für sämtliche Zivilisation, die sich in den Dschungelregionen Perus und Kolumbiens befindet. Gefühlt in jedem noch so kleinen Fischerdorf wird kurz angehalten, um die Bevölkerung mit Cola und anderen essentiellen Lebensmitteln auszustatten. Weite Teile des Dschungels sind bis heute mehr oder weniger Niemandsland. Keiner weiß so wirklich, was sich in dem größten Teil Perus noch so alles befindet und es wird nicht ausgeschlossen, dass es immer noch Ureinwohner geben mag, die völlig ohne Kontakt zur Zivilisation leben. Irgendwie beruhigend zu wissen, dass man noch nicht alles abgeholzt hat. Weniger beruhigend ist allerdings wieder zu beobachten, wie die hier Lebenden mit dem Müll umgehen, den sie verursachen. Zweimal am Tag werden Plastikschüssel mit undefinierbarem, essbarem Schleim herumgereicht, der sogar nach etwas schmeckt, auch wenn er nicht wirklich satt macht. Unter meinen entsetzten Augen schmeißen die anderen Fahrgäste das benutzte Plastikgeschirr in den Amazonas. Ich fühle mich vorbildlich und entsorge meinen Müll, einschließlich meiner Kippen in den dafür vorgesehene Mülleimer, bis ich beobachte, wie eine der Angestellten des Schiffahrtsunternehmens den gesamten Inhalt der Mülltonne ebenfalls in den tosenden Wassermassen versenkt. Ich sammle meinen Müll anschließend für mich und entsorge ihn an unserer Endstation, wo ihm vermutlich dasselbe Schicksal widerfährt. Es ist zum Verzweifeln. Greta Thunberg würde es hier nicht gefallen.
Leticia, das kolumbianische Pendant von Iquitos bildet Kolumbiens einzigen Direktzugang zum Amazonas. Auf der Karte erkennt man gut, wie Kolumbien den kleinen Finger ausstreckt, um noch irgendwie den Amazonas zu erreichen. In den 70er Jahren marschierte die kolumbianische Armee in der Stadt ein, um die erfolgte Übernahme von kriminellen Drogenschiebern niederzuschlagen. Seitdem führt die Stadt ein ruhiges Schicksal und erfreut sich seit einigen Jahren einem immer größer werdenden Tourismus. Während Hannah bereits nach Salento weiterfliegt, buche ich eine günstige dreitägige Wildlife-Tour und werde ausgerechnet am ersten Tag krank. Der alte Schamane, der mit einigen seiner elf Kinder und ein paar Enkel inmitten im Urwald lebt, deutet meine anfänglichen leichten Kopfschmerzen richtigerweise als Anfänge eines grippalen Infekts und sein Kräutertee verhindert auch nicht, dass ich in der ersten Nacht leichtes Fieber bekomme. In ebendieser Nacht wandern wir mit seinem jüngsten Sohn tief in den Urwald hinein und seine Ankündigung, da käme jetzt erstmal mehrere hundert Kilometer lang nichts mehr, beeindruckt mich. Wir kochen uns ein einfaches Mal auf Feuerholz und er baut mir und meinem Mitreisenden eine Hängemattenvorrichtung mit Plastikplane und Moskitonetz. Leicht fieberkrank wirkt der Dschungel noch lebensfeindlicher, als er ohnehin schon ist und ich werde von den über uns herfallenden Insekten zerstochen, zerkratzt und ausgesaugt. Weite Teile des Dschungels stehen immer noch unter Wasser, während die Regenzeit langsam abklingt. Wir legen zum Glück weite Teile unseres Ausflugs mit alten Holzbooten zurück, die so undicht sind, dass man immer wieder Wasser abschöpfen muss. Das indigenen Dorfleben ist faszinierend, auch wenn die westlichen Einflüsse immens sind. Alle tragen moderne Kleidung, es gibt über einen alten Dieselgenerator tagsüber Strom, die Kinder versammeln sich vor dem einzigen Fernseher im Dorf. Der alte Schamane erzählt mir, wie er früher mit seinen Kumpels Kokain über Peru bis nach Brasilien geschmuggelt hat und einmal von der brasilianischen Grenzpolizei kontrolliert wurde. Zwei Indios wie er und sein Kumpel mussten damals wie heute häufiger damit rechnen, kontrolliert zu werden, doch hatten unverschämtes doppeltes Glück. Zuerst waren die Grenzpolizisten selber Indios und luden die beiden Fremdem spontan zum Freundschaftsbier auf die Amtstube ein. Als die beiden Polizisten später durch Zufall das Kokain finden, sind alle bereits beste Freunde und es stellt sich sogar heraus, dass die Polizei selber verkauft und ihnen schließlich die beiden Kilogramm abkaufen. Er resümiert dann abschließend, dass ihm die heutige Zeit mit den Touristen doch besser gefalle. „Sehr friedlich, keine Tote mehr.“
Wir machen weitere Ausflüge, sehen pinke Flussdelphine und bahnbrechende Sonnenuntergänge über dem Amazonas. Seit ich als Kind Isabell Allendes „Die Stadt der wilden Götter“ gelesen hatte, war es ein Traum, einmal hier zu sein. So beeindruckend die Natur auch ist, es ist keine Natur, in der Menschen etwas verloren haben. Das Malaria zur Hochwasserzeit, die unzähligen giftigen Tiere, die es hier gibt und auch das Klima lädt mich nicht zum Verbleiben ein. Ab jetzt geht es wieder in den Teil Kolumbiens, den ich bereits in weiten Teilen kenne, zum Orte wiederentdecken und Erinnerungen auffrischen. Der Blog wird weitergehen, aber vermutlich etwas weniger Input bekommen. Stay tuned!